Camus: Die Pest (2.)

Den Roman lese ich wie den Pestbericht des Daniel Defoe während des Lockdowns als eine Art literarische Krisenbewältigung. Nebenbei bemerkt: Durch den kurzen Abstand der beiden Bücher bemerke ich auch schnell, wie sehr Camus sich an Defoes Buch inhaltlich orientierte. In der Literaturwissenschaft wird ja rund um die Rezeptionsästhetik und dem empirische Rezeptionsforschung seit Jahrzehnten darüber diskutiert, wie die Kognition und der Kontext des Lesenden in Wechselwirkung mit dem Text stehen. Bei der ersten Lektüre der Pest vor vielleicht zwanzig Jahren las ich sie ganz klassisch: Die Krankheit als Parabel auf den Ausbruch des Faschismus in Europa. Der zweite Weltkrieg war ja noch frisch als Camus seinen Roman 1947 publiziert. Die Pest nahm ich nur als symbolischen „mittelalterlichen“ Handlungshintergrund wahr. Die zweite wichtige Rezeptionsebene war die des Existentialismus, auch wenn Camus sein Buch nicht in diese Schublade gelegt haben wollte.

Ganz anders jetzt meine Zweitlektüre: Mitten in der Coronaepidemie rücken beim Lesen die beiden abstrakten Ebenen der Faschismuskritik und des Existenzialismus weit in den Hintergrund, aber dafür die Schilderung der Seuche samt ihrer sozialen Auswirkungen stark in den Vordergrund. Viele Ereignisse in Oran und viele Reaktionen der Menschen kommen einem plötzlich sehr bekannt vor. Selbst Details finden sich darin wieder, etwa unsere Diskussion zu Beginn der Pandemie über die Gefahr der exponenziellen Steigerung der Infektionen: Damals wurde statt „exponenziell“ nur „geometrisch“ als Adjektiv verwendet.

Es beginnt beim Lockdown selbst samt systemkritischen Ausnahmen:

Man kam auf die Idee, innerhalb der Stadt bestimmte besonders stark betroffene Viertel zu isolieren und nur den Menschen, deren Dienste unentbehrlich waren, zu erlauben, sie zu verlassen.

Geht über Fake-Maßnahmen der ängstlichen Menschen:

Aber andererseits notierte er, dass die Pfefferminzpastillen aus den Apotheken verschwunden waren, weil die Leute sie lutschten, um sich vor einer möglichen Ansteckung zu schützen.

Bis hin zu den sehr unterschiedlichen sozialen Auswirkungen:

„Die armen Familien befanden sich dadurch in einer äußerst bedrängten Lage, wohingegen es den reichen Familien an fast nichts fehlte.“

Ästhetisch ist Die Pest sehr traditionell erzählt, allerdings handwerklich auf hohem Niveau. Stilelemente der Moderne findet man so gut wie nicht. Vielleicht die etwas unklare Erzählsituation: Man weiß nicht genau, wer der (sehr traditionelle) Erzähler eigentlich ist. Das literarische Hauptelement sind die gut gelungenen Charaktere, deren erzählerische Aufgabe es ist, unterschiedliche Aspekte einer möglichen Reaktion auf diese Katastrophe darzustellen. Die etwa fünf Hauptfiguren sind damit sehr unterschiedlich angelegt: Etwa der brave Dr. Bernard Rieux, der rational, professionell und emphatisch agiert und der wichtigste Protagonist ist. Oder der Journalist Raymond Rambert, der erst fliehen will, sich dann aber doch dafür entscheidet, helfend in Oran zu bleiben. Für die dunklen menschlichen Seiten steht Cottard, der sich nicht nur über die Seuche freut, sondern auch Wege findet, von ihr monetär zu profitieren.

Der Roman wird keiner meiner Lieblingsklassiker werden, ist aber jedenfalls eine auch wiederholte Lektüre wert.

Albert Camus: Die Pest (rororo)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

code