Mihail Sebastian: „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“. Tagebücher 1935-44

Dieses Tagebuch des jüdisch-rumänischen Intellektuellen Mihail Sebastian ist ein beeindruckendes Zeitzeugnis über die dunkelste Zeit des 20. Jahrhunderts. Beeindruckend in Form und Inhalt. Auf mehr als achthundert Seiten schildert Sebastian, wie schnell die rumänische Gesellschaft in den Faschismus abgleitet. Dass wir selbst in einer Zeit leben, in der die Parallelen zu den dreißiger Jahren ständig zunehmen, gibt der Lektüre zusätzlich eine unangenehme Aktualität. Als ich vor fünfzehn Jahren Klemperers Tagebücher las, war das Beschriebene mental weit weg. Eine barbarische Vorzeit. Heute fordert der österreichische Innenminister die Wiedereinführung nationalsozialistischer Gesetze wie die Schutzhaft und die taktische Stimmungsmache gegen Flüchtlinge unterscheidet sich nur in Details von der antisemitischen Stimmungsmache Anfang der Dreißiger.

Als 1935 das Tagebuch einsetzt ist Sebastian in Bukarest ein anerkannter junger Intellektueller. Anwalt im Brotberuf. Ein längerer Aufenthalt in Frankreich hat ihn frankophil gemacht. Er schreibt an Romanen und Theaterstücken. Plant Bücher über Literatur. Als sich der Faschismus in Rumänien ausbreitet und Rechtsextreme an die Regierung kommen, passiert etwas Gespenstisches: Viele seiner intellektuellen Freunde finden schnell gute Gründe, sich auf die Seite Faschisten zu stellen. Auch die Fans von Hitler werden immer mehr. Wie Sebastian diese Desertation ins Unanständige erlebt, kann man ausführlich in seinem Tagebuch nachlesen. Hinter den einzelnen Beispielen tritt immer die anthropologische Grundkonstante hervor, dass es in solchen Situationen immer mehr Opportunisten gibt als Menschen mit Prinzipien und Zivilcourage. Dieselben Leute werden selbstverständlich nach der Kapitulation Rumäniens sofort wieder zu überzeugten Demokraten.

„…erläuterte er mir nochmals seine Haltung zu den letzten antisemitischen Schlägereien.
‚Es ist bedauerlich, mein Lieber, doch die Juden sind selbst dafür verantwortlich.‘
‚Wieso denn, Camil?‘
‚Weil sie zu viele sind'“.

„Auf einmal drehte sich Nae mit freudigem Gesicht zu mir um und sagt: ‚Sehen Sie, Herr Sebastian, deshalb hat Hitler recht.“

„Er, Mircea Eliade, hätte sich nicht damit begnügt, sondern Herrn Gogu auch noch die Augen ausgestochen. Alle, die keine Gardisten sind, alle, die eine andere Politik als die der Gardisten vertreten, sind Volksverräter und haben das gleiche Schicksal verdient.“

„Kein Anruf. Mircea, Nina, Marietta, Haig, Lilly, Camil – alle haben sie auf stumm geschaltet. Und ich kann sie nur allzu gut verstehen!“.

„Sie waren alle entrüstet über die Verhaftungen und Entlassungen, die sie blödsinnig, willkürlich und unlogisch fanden. Ich wollte ihnen sagen, dass eine Diktatur eben so aussieht. Eine solche wünschen sie sich ja, allerdings nur, wenn sie nicht selbst darunter leider müssen“.

Der zweite Aspekt, der dieses Werk so ungewöhnlich macht, ist das Nebeneinander von (intellektuellem) Alltag und der Zeitzeugenschaft von diversen Grausamkeiten. Rumänien ist ein europäischer Musterschüler in Sachen Judenverfolgung und verabschiedet etwa seine Rassengesetze noch vor den Nürnberger Gesetzen in Deutschland. Als später der Weltkrieg beginnt und die Ausrottung der Juden in Europa, spitzt sich Sebastians Verzweiflung zu. Nebenbei entlarvt sein Tagebuch wunderbar den Mythos vom späteren Nichts-Gewusst-Haben. Die Zeitungen prahlen mit antisemitischen Maßnahmen. Es gibt Presseaussendungen zu Deportationen. Hitlers und Goebbels Reden fordern explizit eine Ausrottung der Juden und werden in rumänischen Zeitungen abgedruckt.

Aber bereits früher bekommt Sebastian Gewissensbisse über sein vergleichsweise noch „normales“ Leben:

„Mir wird klar, dass wir nichts mehr zu gewinnen, zu verteidigen oder zu erhoffen haben. Alles ist verloren. Jetzt folgen die Gefängnisse, das Elend, vielleicht die Flucht, das Exil, vielleicht noch viel Schlimmeres.“

„Ich kann nicht so verantwortungslos sein, Ski zu fahren, während sich womöglich unser ganzes künftiges Leben entscheidet.“

„Ich muss an die polnischen Juden denken, die unter die Okkupation Hitlers geraten sind. Wer jetzt eine Pistole oder ein Gewehr hat, schießt, so viel er kann – und hebt die letzte Kugel für sich selbst auf. Was machen die anderen?“

Viele Verbrechen, von denen Sebastian Kenntnis erlangt, werden für die Nachwelt festgehalten:

„Was einem aber angesichts des Bukarester Massakers das Blut in den Adern gefrieren lässt, ist die absolute Bestialität des Geschehens. Sie scheint noch in der trockenen Sprache des offiziellen Kommuniqués durch, das vor Tagen angab, im Wald von Jilava seien in der Nacht zum 21. Januar 93 Personen ermordet worden; der neueste Euphemismus für ‚Jude‘ ist also ‚Person‘. Doch was man sich erzählt, ist noch viel fürchterlicher als die offiziellen Nachrichten. Es gilt jetzt als völlig sicher, dass im Schlachthaus von Straulesti massakrierte Juden an der Kehle am Fleischerhaken aufgehängt wurden, und zwar an der anstelle der geschlachteten Rinder. An jedem Kadaver klebte ein Zettel: ‚Koscheres Fleisch‘. Was die Ermordeten von Jilava angeht, so wurden sie erst ausgezogen (denn um die Kleider war es zu schade), dann erschossen und auf Haufen geworfen.“

Womit er sich immer wieder aufrichtet ist Musik und Literatur. Sie geben ihm Kraft für den faschistischen Alltag.

„Ich möchte ständig Musik hören – mein einziges Betäubungsmittel.“

„Wenn ich ein Radio hätte, würde ich Musik hören. Viel Bach, viel Mozart – das Einzige, was mich vor meiner panischen Angst retten kann.“

„Meine Thukyidides-Lektüre geht weiter. Faszinierend und beruhigend. Wie armselig ist unser Ringen um Dinge, die im Laufe der Jahrhunderte unverändert geblieben sind.“

„Las gestern ‚Krieg und Frieden‘ zu Ende. Großartig sowohl als historisches Dokument als auch als Roman.“

„Je mehr Shakespeare ich lese, umso größer meine Begeisterung. Der Gedanke an ein Buch Shakespeare gefällt mir.“

„Ich schlug gestern Montaignes Essais auf (weil ich nach einem lateinischen Vers suchte) und konnte sie nicht mehr aus der Hand legen. Was für eine Wonne! Seit langem, seit sehr langem, vielleicht noch nie kam er mir derart lebendig, bezaubernd, ungekünstelt und vertraut vor.“

Viele selbstkritische und selbstreflexive Passagen erinnern auch an Montaigne:

„Tragödien lassen sich nicht tagtäglich erleben. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Am zweiten Tag beginnt die Gewohnheit, das Sichfügen.“

„Ich bin uninspiriert, ohne Talent, Erleuchtung, Berufung. Vor mir ist nichts als Dunkelheit. Es gelingt mir nicht, die einfachsten Gedanken auszudrücken.“

„Dieses Tagebuch ist ziemlich nutzlos. Ich lese es manchmal durch, und das Fehlen einer jeglichen Tiefe ernüchtert mich. Ereignisse ganze ohne Gefühl, ohne Glanz und Ausdruck aufgezeichnet. Nirgends sieht man, dass all dies ein Mensch schreibt, der tagtäglich, stündlich den Tod neben sich, in sich spürt.“

„Allmählich verstehe ich, warum die Armut nicht zur Revolution führt. Der physische Verfall zersetzt jede Würde. Revoltieren ist ein Luxus.“

„Der Tapferste bin ich wohl nicht. Das materielle Elend macht mir nicht weniger Angst als das moralische Elend.“

Momente der Hoffnung gibt es nicht viele:

„Manchmal sehe ich eine düstere Hitler-Welt auf uns zukommen, doch dann löst sich dieser hässliche Traum auf, und ich beginne an ein Europa zu glauben, das auch ich noch erleben werde – ein freies Europa ohne Schrecken und Irrglauben.“

Momente der Verzweiflung überwiegen:

„In meinem Leben kann es nur noch zwei Dinge geben: Selbstmord oder eine Reise irgendwohin, in die Einsamkeit, ohne Wiederkehr.“

„Ich denke ständig an den Krieg. Schritt für Schritt, Sekunde für Sekunde. Manchmal führt dies zu einem schneidendem, echten Schmerz, einer Art nervösem Erstickungsanfall. Uns so vergehen die Tage, einer nach dem anderen, gemächlich, stockend…“

„Tage endloser Angst. Man fühlt sich verfolgt, gehetzt wie in einem Albtraum. Und dann hört man aufgrund zu großen Erschöpfung auf zu denken und verfällt in eine bleierne Apathie“.

Viele seiner Aufzeichnungen sind sehr hellsichtige Analysen des Geschehens:

„Würde man all die vielen Behauptungen nehmen, die man täglich in der Zeitung lesen kann, sie in grammatischer, syntaktischer, semantischer Hinsicht analysieren und mit den Tatsachen konfrontieren, auf die sie sich beziehen man würde erkennen, dass die Scheidung zwischen dem Wort und der Wirklichkeit tatsächlich vollständig ist.“

„Zum ersten Mal erscheint mir, dass die Wahrheit etwas ist, das sich nicht wirklich kaschieren lässt. Was immer es für Fälschungen, Lügen und Übertreibungen gibt, wie sehr man auch die Wahrheit versteckt und entstellt – sie scheint immer noch durch“.

„Was die Massen angeht, so jubeln diese. Das Vergießen jüdischen Blutes, das Verhöhnen der Juden war schon immer die beste Ablenkung für das Volk.“

Diese Zitaten sollten einen guten Einblick geben, was den Leser erwartet. Mihail Sebastian überlebt nicht nur die Deportationen und Pogrome, sondern auch die Luftangriffe auf Bukarest. Sein absurdes Ende: Er wird im Mai 1945 auf dem Weg zu seiner neuen Arbeit von einem LKW überfahren und stirbt.

Mihail Sebastian: „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“. Tagebücher 1935-44 (Claassen)

Ein Gedanke zu „Mihail Sebastian: „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“. Tagebücher 1935-44

  1. Danke für diese Empfehlung!
    Ich hatte bisher nur „Seit zweitausend Jahren“ auf meiner Wunschliste, aber das scheint auf Deutsch vergriffen zu sein. (Auf Englisch wurde es 2016 bei Penguin wieder veröffentlicht.)

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