Retrospektive Ruth Beckermann

Der Cineasten-Streamingdienst MUBI zählt für mich zu den besten kulturellen Entdeckungen der letzten Jahre. Doch ich hätte nicht damit gerechnet, bei dem in London ansässigen Dienst eine ausführliche Retrospektive der Wiener Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann präsentiert zu bekommen. Ihr letzter Film Waldheims Walzer ist für den diesjährigen Auslands-Oskar nominiert.

Bei MUBI gab es über etwa zwei Monate alle ihre großen Dokumentationen zu sehen. Angefangen vom noch mit einer Amateurkamera aufgenommenen Dokumentation über den Kampf um die Arena in Wien aus dem Jahr 1977, einer heftig umstrittenen alternativen Kulturstätte, bis hin zur filmischen Interpretation des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, Die Geträumten von 2016. Drei Themen dominieren in ihrem Werk: Die Geschichte des (Wiener) Judentums, ein kritischer politischer Blick auf Österreich und Reisen als Spiegel der Gegenwart. Ästhetisch setzt Beckermann sehr auf eine „subjektive“ Kamera, welche die Menschen beobachtet und sie ausführlich sprechen lässt. Alternativ dazu gibt es eine Sprecherin im Off. Zum Konzept erhebt die Regisseurin das im Ein flüchtiger Zug nach dem Orient (1999), in dem sie eine Orientreise durch die Briefe der Kaiserin Sissi kommentieren lässt. Man könnte von Film-Essays sprechen.

Besonders entlarvend und beeindruckend finde ich Jenseits des Krieges (1996), in dem Beckermann Reaktionen von Zeitzeugen zur damals heftig angefeindeten Wehrmachts-Ausstellung einfängt. Hier tritt einem das weite Spektrum der menschlichen Psyche und Ethik auf der Leinwand entgegen. Vom Leugnen über hilfloses Rationalisieren bis hin zu den wenigen Menschen, die sich ihrer Beteiligung an diesen Verbrechen stellten und sich moralisch und intellektuell damit auseinandersetzten.

Ihr Blick auf das Wiener Judentum wird für spätere Historiker ebenfalls eine spannende Quelle sein. Am wenigsten zu den anderen Filmen passt der bereits erwähnte Die Geträumten. Zwei Schauspieler sprechen in einem Rundfunkstudio die Briefe von Bachmann und Celan ein. Die dadurch generierte ästhetische Distanz funktioniert hervorragend als Kontrapunkt für die teils sehr emotionalen Texte.

Ich kann jedenfalls die Auseinandersetzung mit dem filmischen Oeuvre der Ruth Beckermann nicht nur allen Wienern sehr empfehlen.

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