Ein beispielhaftes Hörbuch

Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ [2005]

Die Zweifler am Sinn von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im allgemeinen und an deren Kulturauftrag im besonderen, sollten einen genauen Blick auf den „Remix“ des „Mann ohne Eigenschaften“ werfen: In zweieinhalb Jahren verwandelten über vierzig Mitwirkende Musils Prosawerk in eine zwanzigstündige Hörbuchfassung. Wer nun denkt, der ORF wollte mit dieser geistreichen Initiative für einen österreichischen Autor einen wohltuenden Kontrapunkt zur geisttötenden Dauersportberieselung oder zur politischen Hofberichterstattung setzen, wird schnell eines Besseren belehrt. (1)

Dem Bayerischen Rundfunk, genauer der Abteilung „Hörspiel und Medienkunst“ gebührt Anerkennung für diese Edition. Der Hörverlag publiziert das Ergebnis in einer gewichtigen Kassette, die nicht nur 20 CDs enthält, sondern auch ein siebenhundertseitiges Begleitbuch.

Diese beeindruckenden Rahmendaten wären nun völlig belanglos, hätten sie nicht zu einem überzeugenden künstlerischen Ergebnis geführt. Ästhetisch gelungene Hörbuchfassungen sind allerdings keine Seltenheit. Lohnte sich dieser gewaltige Aufwand, wenn am Ende „nur“ ein zufriedenstellende Romanvertonung stünde? Der „MoE Remix“ enthält jedoch eine höchst ungewöhnliche Komponente: er ist editionsphilologisch hochgradig interessant. Der MoE ist bekanntlich einer der berühmtesten unvollendeten Romane der Weltliteratur. Der Nachlass zu dem Buch beträgt etwa 6500 Manuskriptseiten. Die bisher in Buchform veröffentlichten Teile des Nachlasses sind (was Auswahl, Anordnung und Kommentierung angeht) unbefriedigend. Warum dies so ist, erläutert Walter Fanta (Robert-Musil-Institut Klagenfurt) ausführlich im Begleitband. Fanta ist als maßgeblicher Herausgeber der noch unpublizierten „Kommentierten digitalen Gesamtausgabe Robert Musil“ (2) einer der besten Kenner der Materie. Er erarbeitete die Textauswahl, welche für den akustischen Nachlassteil herangezogen wurde. Zwei weitere Produktionsprinzipien ergänzen den philologischen Ansatz: Oberstes Gebot war Texttreue. Eingriffe in den Text waren tabu. Schließlich wird jede Textpassage mit einer gesprochenen, präzisen Stellenangabe versehen. Zwei Beispiele: „Zu den Lindner-Kapiteln. Schmierblatt Aufbau (1933/1934)“ oder „Beim Rechtsanwalt. Kapitelgruppenentwurf (1928) und Kapitelentwurf (1933/1934)“.

Ohne an dieser Stelle weiter ins Detail gehen zu können, lässt sich konstatieren, dass mit dem „MoE Remix“ die derzeit beste Bearbeitung des Nachlasses für ein größeres Lesepublikum vorliegt. Dass dies ein Hörbuch leisten muss – immerhin ist der komplette Text des „Remix“ im Begleitbuch abgedruckt -, stellt dem Rowohlt Verlag kein gutes Zeugnis aus. Während andere Verlage wie S. Fischer ihre wichtigen Autoren in großen Editionen publizieren (z.B. die exzellente Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe), wird das Werk Robert Musils von Rowohlt seit vielen Jahren sträflich vernachlässigt. Leider kann Robert Musil nicht mehr wie kürzlich Wilhelm Genazino von Rowohlt zu Hanser wechseln …

Die literaturwissenschaftlich plausible Textauswahl bildet nun die Basis für das von Katarina Agathos und Herbert Kapfer entwickelte ästhetische Konzept. Angesichts des riesigen Umfangs des MoE mussten waren weitläufige Streichungen unvermeidlich. Ein Kriterium für diese Eliminationen war, dass die zentralen Erzählstränge gut repräsentiert bleiben (Parallelaktion, Ulrich/Agathe, Walter/Clarisse, Moosbrugger u.a.). Obwohl wichtige essayistische Stellen enthalten sind, kommt die abstrakte Ebene des Romans zugunsten der „Action“ etwas zu kurz. Das schadet dem Ergebnis aber nur bedingt.

Die zwanzig Hörstunden teilen sich in etwa zehn Stunden Präsentation des bereits zu Lebzeiten veröffentlichten „kanonischen“ Textes und in zehn Stunden Vertonung des Nachlass samt diverser Kommentare von Musilkennern.

Eine prominente und klug ausgewählte Schauspielerriege liest unter der Regie von Klaus Buhlert den Text. Willkürlich herausgegriffen seien Manfred Zapatka, Ulrich Matthes, Angela Winkler, Josef Bierbichler und Ignaz Kirchner. Dabei werden nicht nur die Figuren von unterschiedlichen Akteuren gelesen, sondern auch personenbezogene Passagen des Erzählers.

Über Musils Text legt sich zusätzlich eine Kommentarschicht, da Beiträge von Musilforschern (Walter Fanta, Karl Corino) und -kennern (Roger Willemsen, Alexander Kluge) den Primärtext ergänzen. Auch Elfriede Jelinek ist ausführlich zu hören, wenn sie ihre literarische Auseinandersetzung mit dem Moosbruggerstoff vorträgt.

Diese ästhetische Vorgehensweise passt gut zu Musils offener Ästhetik, und nach zwanzig Hörstunden bleibt ein abgerundeter Gesamteindruck zurück.

Etwas bremsen muss man allerdings den Enthusiasmus, der im Begleitbuch anklingt: Endlich läge nun eine adäquate neue Ausgabe für ein größeres Leserpublikum vor, heißt es da. Eine Auflagenhöhe von 1000 Stück und der Preis von 150 Euro dürften diesem hehren Ziel ebenso entgegenstehen wie die starken Textkürzungen.

Trotzdem ist der „MoE Remix“ nicht nur Freunden Musils zu empfehlen. Wer bisher vor der Lektüre der zwei dicken Bände zurückschreckte, kann sich hier einen ersten Eindruck von den Qualitäten des Romans verschaffen. Wer danach nicht zu den Büchern oder zu Wolfram Bergers Komplettlesung greift, dem ist literarisch ohnehin nicht mehr zu helfen.

(1) Es hatte auch eine Weile gedauert, bis man sich am Küniglberg dazu durchringen konnte, die Komplettlesung des MoE durch Wolfram Berger in Ö1 auszustrahlen. Die mutigen Redakteure wählten den idealen Sendeplatz: Jeden Tag um 00:08. Bergers Lesung ist übrigens wohlfeil für 26 Euro im MP3-Format beim Zweitausendeins-Versand erhältlich.

(2) Als Erscheinungstermin der digitalen Edition wird 2007 genannt.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Remix. DHV – Der Hörverlag, München 2004 ISBN , CD, 149,00 EUR

Literatur und Kritik Nr. 397/398, September 2005

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