Äthiopien – Eine Reise in die Vergangenheit

Publiziert in „Literatur und Kritik“ Mai 2014.

Oktober / November 2013

Einige Tage bin ich bereits in einem Geländewagen auf teils abseitigen Wegen im Hochland Äthiopiens unterwegs. Wenn ich an meine Ankunft in Addis Abeba zurückdenke, kann ich eigentlich nicht mit dem brandneuen Dreamliner der Ethiopian Airlines angekommen sein, sondern mit dem TARDIS des Dr. Who. Bei keiner meiner bisherigen Reisen hatte ich so sehr das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. In den meisten Ländern muss man geistige Energie aufbringen, um die archäologischen und historischen Monumente in eine lebendige Vergangenheit zu verwandeln. In Äthiopien überhebt einem der gelebte Alltag von diesem Aufwand.

Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, welchen Zeitpunkt in der Vergangenheit man ansetzt. Die Menschen fristen ihr Leben wie vor fünfhundert oder wie vor tausendfünfhundert Jahren: Fast alle arbeiten mit den primitivsten Mitteln in der Landwirtschaft. Von Ochsen gezogene Holzpflüge sah ich auch in anderen Ländern, aber in Äthiopien wird zusätzlich per Hand geerntet und mit archaischen Mitteln gedroschen. Wer Esel für den Transport des Geernteten besitzt, ist privilegiert. Ansonsten tragen Frauen, Kinder und manchmal auch Männer die Getreidebündel in waghalsigen Konstruktionen auf dem Kopf nach Hause. Kinder arbeiten von klein auf selbständig in der Landwirtschaft oder als Hirten. Nicht nur das Wie, auch das Was des Anbaus ist archaisch. Gesät wird wie seit vielen Jahrhunderten Teff. Diese Grasart wirkt im Gegensatz zum Weizen zart, und die Körner pro Halm sind schütter verteilt. Ohne Zweifel lieferte ein modernes Hochleistungsgetreide einen mehrfachen Ertrag. Aber die Äthiopier können sich ebenso wenig vorstellen, auf ihr traditionelles Fladenbrot Inschera zu verzichten wie die Wiener auf ihr Schnitzel. Während im sicheren Wien besorgte Helikopter-Eltern noch ihre Zwölfjährigen fürsorglich zur Schule bringen, hüten in der Provinz Tigre Fünfjährige bereits alleine kleine Herden. Kinderarbeit ist omnipräsent. Gingen sie zur Schule, würde so manches Dorf wirtschaftlich zugrunde gehen.
Fehlender Strom und das fehlendes Wasser sind ubiquitär. Ab und an sieht man moderne Brunnen, aber der überwiegende Teil des Wassers wird von traditionellen Wasserstellen geholt. Satellitenschüsseln sind, im Gegensatz zu vielen anderen armen Ländern, immer noch eine Seltenheit. In niedrigen Lagen sind drei Ernten pro Jahr möglich, in den höheren Regionen des Hochlands nur noch eine Ernte – bei weitem zu wenig, um eine Familie zu ernähren. Das größte Elend sehe ich deshalb über 3000 Meter in der grandiosen Landschaft des Simien-Nationalparks. An den atemberaubenden Aussichten haben freilich nur wir Touristene eine Freude. Für die Dorfbewohner der Gegend muss es wirken als hätte sich die Geographie mit ihnen hier einen grausamen Scherz erlaubt.

Generell fällt es mir schwerer als auf meinen früheren Reisen, mich auf die Kultur und Geschichte des Landes zu konzentrieren. Das liegt nicht an den Reisestrapazen. Zweitausend Kilometer in knapp zwei Wochen im Geländewagen durch das Hochland zu fahren, heißt angesichts der oft desaströsen Straßenverhältnisse: Tagesetappen von mindestens zwölf Stunden. Auf der Fahrt werden wir aber permanent vom schwierigen Alltag der Äthiopier eingeholt. Selbst in entlegenen Gebieten bedeutet jeder Stopp: Kinder. Nach ein paar Minuten sind die Land Cruiser von kleinen Äthiopiern umringt. Manche sehen uns skeptisch, manche sehen uns neugierig und manche sehen uns verzweifelt an mit den paar Fetzen, die sie noch am Leib haben. Konkret helfen kann man nicht, man müsste mit einem Lastwagenkonvoi unterwegs sein, um die Nachfrage zu befriedigen. „Mister, give me pen / shirt“ ist der häufigste Wunsch. So schiebt sich das oft mit erstaunlicher Würde getragene Elend immer wieder vor intellektuelle Reflexionen.

Ein anderer Teil des Alltagslebens ist tief in der Vergangenheit verwurzelt: Die Religion. In der äthiopischen Geistesgeschichte gibt es nichts der europäischen Aufklärung vergleichbares, weshalb das christlich-religiöse Leben anmutet wie im europäischen Mittelalter. Vorab sei daran erinnert, dass die eigenständige äthiopisch-orthodoxe Kirche zu den ältesten überhaupt zählt und ihre theologische Eigenständigkeit seit dem Konzil von Calzedon (451) erfolgreich behauptet. Die Lehrmeinung ist monophysitisch, das heißt sie erkennt nur die göttliche Natur Christi an.
Auch die Religionspraxis hat eine Reihe von Alleinstellungsmerkmalen. So gibt es das Amt des Debtera. Üblicherweise ungeweiht, ist er für die Kirchenmusik zuständig. Die Ausbildung dafür dauert über dreißig Jahre, was alleine schon bemerkenswert ist. Ihr Gesang wird über Lautsprecher an die Gemeinde übertragen. Das erinnert ebenso an Muezzine wie die Art und der Duktus der Musik. Auf europäische Ohren wirkt diese Ästhetik sehr fremd, es gibt orientalische und indische Anleihen. Als alte Kirche findet man ebenfalls noch viele Anleihen beim Judentum, vom Schweinefleischverbot bis zu Beschneidungen.
Der Einfluss der Priester auf den Alltag der Menschen ist im Hochland Äthiopiens enorm: Es gibt unzählige Verhaltensregeln. Hundertachtzig Fastentage sind für Laien einzuhalten, zweihundertfünfzig für Priester. Dann ist es nicht nur verboten, Fleisch, Eier und Milchprodukte zu essen, sondern auch jeglicher Geschlechtsverkehr. Kleriker sind verehrte Respektspersonen. Ich sehe auf der Reise sogar gut ausgebildete, mehrsprachige Äthiopier, die sofort das Kreuz küssen, welches ihnen ein Priester hinhält. Die äthiopische Regierung erkennt inzwischen, dass die Feiertagsflut der Wirtschaft und dem Wohlstand abträglich ist, und versucht in den Dorfschulen zaghaft gegen den kirchlichen Einfluss anzulehren.
Wie der katholische Gott, benötigt auch der äthiopische Gott ständig Geld. Wenn ich als Reisender eine Kirche betrete, egal ob eine der legendären Felskirchen in Lalibela oder ein normales Gotteshaus, beginnt immer dasselbe Ritual: Der Priester stellt sich stolz in seinem Ornat zum Fotografieren auf, wofür er pro Fotografierenden 10 Birr (40 Cent) kassiert. Ein unwürdiges Schauspiel, das die Autoritäten inzwischen angeblich verboten haben.
Der hygienische Zustand dürfte in den mittelalterlichen europäischen Kirchen nicht anders gewesen sein: Oft ist es in den Gotteshäusern olfaktorisch herausfordernd und man fängt sich dort unweigerlich Flöhe ein.

Meine Mitreisenden und ich nehmen diese Zustände freilich gerne in Kauf angesichts der grandiosen Architektur der äthiopischen Felskirchen. Im nach dem Kaiser Lalibela benannten Ort besichtige ich beide im 12./13. Jahrhundert errichteten Gruppen, die weltweit einzigartig sind und den Höhepunkt dieses Genres bilden. Die meisten sind buchstäblich mit einem enormen Aufwand und einer erstaunlichen Präzision direkt aus den Felsen herausgeschlagen. Immer wieder fühle ich mich an Petra erinnert, auch wenn ein direkter Vergleich mit den Nabatäerbauten unzulässig ist. Als ich das Labyrinth dieser Kirchen durchschreite muss ich unwillkürlich mich an die Hell- und Dunkelkontraste bei Caravaggio oder Rembrandt denken. Mir leuchtet auch die Legende ein, dass diese Bauwerke nur mit der Hilfe von Engeln aus den Felsen geschlagen werden konnten.
Faszinierend ist ebenso die äthiopische Kirchenmalerei. Die besten Beispiele dafür sind allerdings nicht in Lalibela zu finden. Wie beim religiösen Leben entwickelte sich bei der Dekoration ein völlig eigenständiger Stil. Als ich in der durchgehend bemalten Debre Berhan Selassie in Gondar stehe fühle ich mich vom Eindruck her an die wesentlich größere Sixtinische Kapelle erinnert. die visuelle Wirkung ist stark und das ikonographische Programm ist anspruchsvoll. So ist auf der Nordwand die äthiopische Marienlegende in fünfunddreißig Bildern dargestellt. Die Figuren treten plastisch hervor, was nicht zuletzt an deren überproportional großen Augen liegt, eines der wichtigsten Stilmerkmale. Diese finden sich ebenso in den zahlreichen illuminierten Handschriften, die es in jeder der bekannteren Kirchen gibt. Viele davon sind freilich aus dem 19. Jahrhundert und werden als spirituelle Alltagsgegenstände behandelt, anders als die Museumsstücke in europäischen Bibliotheken.
Auffallend ist die Explizität mit der Grausamkeit dargestellt wird, am liebsten anhand von Märtyrerszenen. Da wird verbrannt, gespießt und zerstückelt wie in Computerspielen für Erwachsene. Ich werde den Verdacht nicht los, dass dies in erster Linie der Einschüchterung der Gläubigen dienen soll und das bis heute passabel funktioniert.

Selbst ein kursorischer Überblick über die kulturellen Höhepunkte, wäre unvollständig, ohne die vorchristliche Zeit zu erwähnen. Die antike Hauptstadt Axum ist ein besseres Dorf mit einer riesigen Kathedrale. Die Straßen und selbst der Hauptplatz sind ungeteert. Das Zentrum des Ortes teilen sich einträchtig die Tiere mit den Menschen. Mein erster Besuchspunkt ist selbstverständlich der berühmte Stelenpark, dessen Exemplare zu den größten je gebauten gehören und von den Axumiten als Schmuck für Gräber aufgerichtet worden sind. Die größte Stele ist 520 Tonnen schwer und umgestürzt, falls sie überhaupt je aufgerichtet werden konnte. Die moderne Kathedrale Maryam Sion ist ein Prachtbau, der in einem frappanten Kontrast zum Dreck des Hauptplatzes steht. Dort werde ich Zeuge einer Taufe und einer Hochzeit. Eine hübsch geschmückte Braut und einen hübsch herausgeputzten Bräutigam, die eine auffallende Gemeinsamkeit aufweisen: Beide machen eine todunglückliche Miene, während die anwesenden alten Menschen mit dem Arrangement sehr zufrieden zu sein scheinen.
Ein paar Schritte davon entfernt steht das größte Heiligtum des Landes: Der Bau in dem laut Überlieferung die Bundeslade und die Originaltafel des Moses mit den zehn Geboten aufbewahrt wird. Praktischerweise darf sie außer einem auf Lebenszeit ernannten Wächter niemand sehen.
Sehr beeindruckt bin ich einige Tage später auch von der alten Kaiserstadt Gondar. Die im 17. und 18. Jahrhundert sukzessive errichtete Palastanlage ist für afrikanische Verhältnisse exzellent erhalten und beeindruckt durch die kluge architektonische Anlage. So mancher europäische Palast aus dieser Zeit wirkt provinziell dagegen.

Im Flugzeug zurück nach Frankfurt denke ich dann vor allem an die Menschen in Äthiopien und das unverdiente Privileg, in Europa geboren worden zu sein.

3 Gedanken zu „Äthiopien – Eine Reise in die Vergangenheit

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