Réjean Ducharme: Von Verschlungenen verschlungen

Kindheit als zynisches Sprachkunstwerk


Über vier Jahrzehnte dauerte es, bis sich für den sprach- und bildgewaltigen französischen Roman »Von Verschlungenen verschlungen« ein Übersetzer fand. Das Warten auf die dunkle, zynische Kritik wider das Großbürgertum hat sich gelohnt.

Réjean Ducharmes ebenso einflussreicher wie ungewöhnlicher Roman L’avalée des avalés (Von Verschlungenen verschlungen) ist 45 Jahre nach seinem Erscheinen schließlich doch ins Deutsche übersetzt worden. Selbst die Schlüsselrolle des Buches in Jean-Claude Lauzons Film Leolo (1992) ließ bisher deutschsprachige Verleger kalt. Bérénice Einberg berichtet in ihm von ihrer Kindheit und ihrem Erwachsenwerden in zerrütteten, aber quasi-feudalen Familienverhältnissen. Es wäre aber ein Missverständnis, den Roman als realistische Literatur zu lesen. Es handelt sich um ein artifizielles Sprachkunstwerk. Ducharme bei der Errichtung dieses Prosagebäudes zu beobachten, ist beeindruckend: Die Bildersprache ist gewagt und balanciert auf dem Abgrund zwischen surrealer Groteske und Realität. Die meisten Autoren würden an dieser Spielform des Expressionismus scheitern. Ducharme zieht seine Leser aber mühelos in diesen Sprachkosmos hinein.

Eine der ungewöhnlichsten Kunstfiguren der Weltliteratur

Der Blick der kleinen Bérénice auf die Erwachsenenwelt ist erbarmungslos und zynisch. Sie hasst ihren Vater und die Welt in der sie lebt – mit der Ausnahme ihres älteren Bruders Christian, den sie bis zum Inzestuösen vergöttert. Läse man den Roman realistisch, stieße man auf einen großen Konstruktionsfehler in der Erzählperspektive: Bérénice schreibt nicht wie ein Kind, sondern wie eine hochgebildete Intellektuelle. So als hätte sie bereits mit acht Jahren mehrere höchst unterschiedliche Studiengänge abgeschlossen. Volksschulkinder formulieren üblicherweise nicht auf höchstem literarischem Niveau und sind auch keine wandelnden Fremdwörterlexika. Kurz, hinter Bérénice versteckt sich als Erzähler ein erwachsener Zyniker ohne Illusionen.

Diese kaltschnäuzigen Beobachtungen wechseln nun mit jeder Menge kindlichem Unfug ab. Groteske und gefährliche Spiele werden gespielt. Der Erwachsenenwelt wird mit diversen Provokationen der Spiegel vorgehalten. Kalter Hass wechselt sich mit heißen kindlichen Sehnsüchten ab. Die Familienverhältnisse sieht das Kind in einer Schwarz-Weiß-Logik: Wird der Vater gehasst, so wird die Mutter vergöttert. Bérénice ist sicher eine der ungewöhnlichsten Kunstfiguren der Weltliteratur. »Von Verschlungenen verschlungen« liest sich trotz dieser Komplexität ausgesprochen unterhaltsam, wenn man bereit ist, sich auf diesen spektakulären Sprachstrom einzulassen. Dann stellt sich ein ähnlicher Sog ein, wie man das aus den Büchern des Thomas Bernhard kennt. Der Übersetzer Till Bardoux leistete exzellente Arbeit, diese Sprachexplosion ins Deutsche zu übertragen.

Der Roman ist vollgepackt mit Anspielungen und Themen. So kommt die Religion als Opfer des Spottes nicht zu kurz, läuft doch eine strikte Trennlinie zwischen Christentum und Judentum durch die Familie. Für ihre provokanten Annäherungen an ihren Bruder Christian wird Bérénice zu orthodoxen jüdischen Verwandten nach New York verbannt. Für deren religiöse Gebräuche hat sie nur Verachtung übrig.

Es gibt nur wenige Erstlinge, die literarisch etwas völlig Neues zu Papier bringen. Mit Von Verschlungenen verschlungen ist Réjean Ducharme dieses Kunststück gelungen.

Réjean Ducharme: Von Verschlungenen verschlungen. Roman (Traversion)

Erschienen in The Gap Nr. 128.

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