Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

Das 1953 erschienene Buch trägt keine Gattungsbezeichnung und zählt sicher zu den merk-würdigsten Texten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. In Literaturkreisen wird Die Insel des zweiten Gesichts seit Jahrzehnten als dringende Empfehlung herumgereicht, nicht zuletzt im Umfeld der Arno-Schmidt-Gemeinde, die sich ja, wie ihr Gründervater, gerne mit entlegener Lektüre schmückt.

In der bei Claassen zuletzt 1992 erschienenen gebundenen Ausgabe umfasst der Text 900 eng bedruckte Seiten. Als Leser stelle man sich also auf ein größeres (lohnendes!) Unterfangen ein.

Beschränkte man sich auf die Beschreibung der „Handlung“, wäre diese schnell erzählt. Das Alter Ego Thelens lebt mit seiner Partnerin Beatrice zwischen 1931-1936 auf Mallorca. Bald ohne Geldmittel erleben sie eine Menge Abenteuer, treffen auf skurille Gestalten aus allen Gesellschaftsschichten, Einheimische und Ausländer, und werden nach der Machtübergabe an Hitler als Gegner des Regimes schikaniert. Flüchtlinge aus Deutschland tauchen auf, ebenso Kraft-Durch-Freude-Schiffe voller Nazis. Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs kostet die beiden fast das Leben und sie können sich in letzter Minute nach Frankreich absetzen.

Handelt es sich also um die bitteren Memoiren eines Emigranten? Inhaltlich zum Teil, als Gattung ganz und gar nicht. Thelen hat für seine Erlebnisse eine Ästhetik entwickelt, die hochgradig originell ist, obwohl sie eigentlich nur bekannte Stile kombiniert. Dies aber so brillant wie ich das bisher nur selten las.

Die wichtigsten Genres, die hier wie in einer Komposition variiert werden sind zusätzlich zur bereits erwähnten Memoirenliteratur: Der Pikaro-Roman, die Satire, die Polemik, die Diatribe, die Groteske, die Sozialreportage und die Reiseliteratur. Wollte man das Buch in eine weltliterarische Tradition einbetten, müßte man Don Quijote, Simplicissimus Teutsch und Tristram Shandy an erster Stelle nennen, handelt es sich bei der Insel doch um eines der quasi-barocken Wucherbücher.

Thelen war sich der Originalität seiner Ästhetik bewusst, weshalb sich in der Insel immer wieder selbstreferentielle Stellen finden:

Vigoleis? Und Vogel-F? Sie führen da einen romantischen Namen, wenn ich Sie recht verstanden habe, wohl ein Verwandter jenes Ritters von der Artusrunde […] Wigalois? Minnesang, 13. Jahrhundert, ich besitze die Benecke-Ausgabe […]
„Verwandt […] artverwandt, ja, das bin ich schon mit der Gravenbergschen Gestalt“, – verschwieg aber, daß ich das Rad, welches mein Namensvetter als Helmzier auf dem Kopfe trug, im Kopf selbst hatte, wo es sich zuweilen so rasch dreht, daß mir schwindlig wird.

[S. 173f.]

Was der Hauptmann über meinen Stil gesagt hatte, war so abwegig nicht, aber das einzig Treffende wäre doch gewesen, ihn mit Kaktusstil zu bezeichnen: es bilden sich Ableger ins Wilde hinein, wie beim Kaktus, der gerade Augen setzt, wo man sie nicht erwartet.

[S. 325]

Ich rede dem freien Spucken das Wort, und ich preise mich glücklich, mit diesen Aufzeichnungen an einen Verleger geraten zu sein, der diese Kunst aus vollem Halse beherrscht […]
[S. 383]

Wobei es „Kaktusstil“ sicher am besten trifft. Thelen kommt gerne vom Hundertsten ins Tausendeste und ist ein Exkurskünstler vom Range eines Laurence Sterne. Eines der wichtigsten Merkmale seines Stils wurde noch nicht genannt: sein überbordender Wortschatz. Ich wage die These, dass es in der deutschen Literatur kaum ein einzelnes Werk gibt, das mehr unterschiedliche Wörter verwendet. Selbst sein wortmächtiger Kollege Thomas Mann wirkt dagegen beinahe sprachlich retardiert. Wenn Thelen die passenden Wörter fehlen, erfindet er neue. Seine Beschreibungskunst ist so plastisch und anschaulich, seine Vergleiche und Metaphern so treffend und erkenntnisfördernd, dass ich nur wenig Vergleichbares kenne.

Dieser hohe komische Stil nimmt viele Anleihen an Klassiker (oft an das Alte Testament) und stellt sich damit explizit in eine Reihe mit dem Kanon ohne jedoch anmaßend zu wirken. Die Komik resultiert nicht selten aus dem Kontrast des Beschriebenen („Erlebnisse in der Gosse“) mit diesem Stil. Dass Thelen seine zum Teil oft unsympathischen, „seltsamen“ und irrationalen Charakterzüge und daraus resultiernde Ereignisse offen und schonungslos beschreibt, stellt ihn auch in die Reihe der kritischen autobiographischen Literatur.

Thelens satirische und polemische Passagen gehören ohne Zweifel zu den besten, welche die deutsche Literatur hervorgebracht hat. Die Schilderung seiner ersten „Touristen-Führung“ auf Mallorca, seine Abrechnung mit den nazistischen Wendehälsen an den deutschen Universitäten oder seine furiosen religionskritischen Passagen seien als Beispiele genannt.

Höchste Zeit also, dass die Insel des zweiten Gesichts wieder mehr gelesen und weniger als „Geheimtipp“ empfohlen wird.

Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts (Claassen)

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