Iran – Vom widersprüchlichen Alltag einer säkularen Theokratie

Erschienen in „Literatur und Kritik 489/490 (November 2014).

„Ist das nicht gefährlich?“ – Das war die häufigste Frage, die ich vor meiner dreiwöchigen Iranreise zu hören bekam. Da ich mich in der Vergangenheit oft religionskritisch geäußert hatte, sahen mich einige Freunde bereits kurz nach der Einreise gesteinigt. Stünde im Iran auf Atheismus nicht die Todesstrafe? Die meisten Europäer haben ein ausschließlich negatives Bild vom Iran. Aus teilweise guten Gründen, wenn man an die desaströse Menschenrechtslage dort denkt. Die knapp siebentausend Kilometer, die ich durch Persien fuhr, belehrten mich allerdings eines Besseren: Der Alltag der Menschen ist ganz anders als wir im Westen meinen. Eine differenziertere Sichtweise ist dringend notwendig.

Meine Reise führt mich im Mai von Teheran aus gegen den Uhrzeigersinn erst zu den Reisfeldern des Kaspischen Meeres und in den Norden des Landes, wohin sich nur selten Touristen verirren. Der nördlichste Punkt ist die armenische Thaddäuskirche, in der Nähe der türkisch-armenischen Grenze. Nach dem kurdischen Gebiet im Westen fahren wir mit vielen Zwischenstopps Richtung Süden nach Schiras. Die Stadt selbst ist ein Höhepunkt jeder Iranreise und Ausgangspunkt für die Besichtigung von Persepolis. Die südwestlichste Ecke der Reise ist die Wüstenstadt Bam, welche Ende 2003 von einem verheerenden Erdbeben vernichtet wurde. Weitere wichtige Stationen sind Yasd und selbstverständlich Isfahan, ein Höhepunkt jeder Iranreise.

Die erste große Überraschung: Das Leben in der Theokratie ist wesentlich weniger religiös geprägt als ich es erwartete. Reist man in die Türkei oder nach Marokko packt man am besten Ohrstöpsel ein, um von den Muezzinen nicht frühmorgens aus dem Schlaf gerissen zu werden. Im Iran fällt mir erst nach einigen Tagen auf, dass ich bisher noch keinen einzigen Gebetsruf gehört habe. Das wird sich erst am Ende der Reise in Isfahan ändern. Im Gegensatz zu den Sunniten sehen die Schiiten ihre religiösen Pflichten entspannt. Sie legen Gebete pragmatisch zusammen, sodass sie mit drei statt fünf Gebeten auskommen. Im Iran wollte unsere Fahrer kein einziges Mal eine Gebetspause einlegen. In der offiziell säkularen Türkei erlebte ich Fahrer, die vehement auf ihre Gebetspausen pochten. Im öffentlichen Leben konnte ich ebenfalls keine Einschränkungen wegen der Gebetszeiten beobachten. Selbst am heiligen Freitag haben nicht wenige Geschäfte geöffnet.

Ich kann diesen entspannten religiösen Alltag nur schwer mit meinem Wissen über das Ritual des jährlichen Ashurafestes zusammenbringen, während dessen sich schiitische Jungen und Männer vor vielen Zuschauern einer oft blutigen Selbstgeißelung unterziehen, um des Märtyrertods von Hussein ibn Ali zu gedenken. Es gibt im Iran auch kaum etwas, das öffentlich präsenter wäre als der Märtyrerkult: Die Toten des Kriegs mit dem Irak werden in unzähligen Tafeln gefeiert. Auf jeder dieser Tafeln ist ein großes Foto der meist sehr jung Getöteten. Aufgestellt sind sie neben der Straße, sodass man während einer längeren Fahrt durch besiedeltes Gebiet oft gespenstisch an tausenden von Toten vorbeifährt.

Die Jugend lässt sich von dieser seltsamen Staatsideologie allerdings nur noch bedingt gängeln. In der Öffentlichkeit hält man pro forma zwar die Regeln ein, aber oft mit einer provokanten Lässigkeit. Ängstliche Touristinnen sind konservativer gekleidet als progressive Iranerinnen. Das Kopftuch ist manchmal so weit nach hinten gerutscht, dass man es kaum mehr sieht. Das gilt allerdings überwiegend für Teheran und die Großstädte, während man in der Provinz häufig noch dem Tschador begegnet. Im wohlhabenden Norden der Hauptstadt sieht man viele junge Frauen am Steuer, das Smartphone am Ohr. Ein Bild, das im nahen Saudi-Arabien völlig undenkbar wäre. Es ist bemerkenswert, dass das totalitäre Saudi-Arabien im Westen medial weniger kritisiert wird als der Iran mit seinem vergleichsweise liberalen Straßenleben.

Dieser Alltag wirft auch ein bedenkenswertes Schlaglicht auf die berüchtigte Scharia. Theoretisch kann man für Ehebruch gesteinigt werden, eine der grausamsten Hinrichtungsformen. Die notwendigen vier Augenzeugen sind in der Praxis natürlich schwer aufzutreiben. Wie mir international erfahrene Teheraner aber nachdrücklich versichern, unterscheidet sich das Sexualleben in ihrer Stadt nicht wesentlich von dem in westlichen Hauptstädten. Würde die Scharia wirklich praktiziert, müsste man halb Teheran steinigen. Ähnlich ist es mit dem Alkohol. Uns Einreisenden werden am internationalen Imam Khomeini Flughafen Peitschenhiebe für das Schmuggeln von Alkohol angedroht. Es gibt aber ein Netz von oft armenischen Schwarzhändlern, bei denen man Alkohol zumindest in Teheran telefonisch mit praktischer Hauszustellung bestellen kann. Armenier zählen im Iran zu den geschützten religiösen Minderheiten. Die Toleranz geht so weit, dass ihnen die Herstellung von Alkohol offiziell erlaubt ist – so lange sie ihn nicht verkaufen. Im Iran gibt es alle westlichen Vergnügungen, allerdings müssen sie in den eigenen vier Wänden stattfinden.

Es spielt keine Rolle, ob ich mich in einer Großstadt oder auf dem Land aufhalte: Ich werde sofort angesprochen. Nach einem herzlichen „Welcome!“ folgt sofort die Frage: „How do you like Iran?“. Schnell wird mir klar, wie schmerzlich die Iraner unter dem schlechten internationalen Ruf ihres Landes leiden. Schau uns an und rede mit uns! Sehen wir aus wie fanatische Islamisten und Selbstmordattentäter? Sind wir nicht ebenso gebildet und normal wie ihr Europäer? Sobald ich anfange, meine positiven Eindrücke zu formulieren, fällt speziell den jungen Iranern sichtbar ein Stein vom Herzen. In Gesprächen wird schnell deutlich, wie stolz sie auf ihre Jahrtausende alte Kultur sind. Sie wollen als eine der wichtigsten Kulturnationen der Weltgeschichte anerkannt werden, gleichberechtigt mit Ägypten, Griechenland oder Italien. Gerne betonen sie ihr Indoeuropäertum, manchmal mit einem nicht zu überhörenden chauvinistischen Unterton, und grenzen sich strikt gegen die Araber ab. Ein unerfreulicher Nebeneffekt dieser Mentalität ist der institutionelle Rassismus, mit dem die afghanischen Flüchtlinge im Lande zu kämpfen haben.

Viele Iraner scheinen mir völlig resistent gegen die Ideologie ihres Staats zu sein. Seit Jahrzehnten werden sie beispielsweise zum Hass gegen den USA erzogen. Unter den zahllosen Flaggen, die in den Hotels zur Dekoration verwendet werden, sehe ich nirgends eine einzige amerikanische. Die männliche Jugend auf der Straße ist trotzdem durch den American Way of Life geprägt und trägt auffällige amerikanische Marken, wenn sie es sich leisten kann. Ein Arzt in Isfahan wirbt auf seinem Schild prominent mit „from the U.S.A“. Unter vier Augen redet man selbst mit völlig Fremden Klartext. Im Park einer Provinzstadt spricht mich auf Englisch ein Physiker an. Er lobt zuerst ausführlich Deutschland und dessen Wirtschaft, zählt anerkennend prominente deutsche Physiker auf, und fährt fort: „Aber es gab auch sehr böse Deutsche wie Hitler.“ Nachdem er sich kurz umsieht, ob jemand in Hörweite steht folgt geflüstert der ebenso mutige wie problematische Satz: „Khomenei war unser Hitler.“

Auch die Wertschätzung des kulturellen und historischen Erbes passt wieder so gar nicht zum Bild eines islamistischen Landes. Man muss nicht an die durch die sunnitischen Taliban zerstörten Buddhastatuen im afghanischen Bamiyan denken, um sich das Bilderverbot des Islam ins Gedächtnis zu rufen. Im Gegensatz dazu erfreuen sich die „heidnischen“ bilderreichen Altertümer im schiitischen Iran von allen Seiten größter Wertschätzung. Nicht nur von den Iranern, die sehr stolz auf ihre Vergangenheit sind, selbst der theokratische Staat kümmert sich kompetent um diese Kulturschätze. Ich habe selten so sorgfältig kuratierte Provinzmuseen besucht wie im Iran. Als Beispiel sei das Azarbaidjan-Museum in Tabriz genannt, der Provinzhauptstadt Ostazarbaidjans.
Zu den Höhepunkten der altpersischen Kultur zählen neben dem Persepolis auch viele figurative Reliefs und Grabstätten. Überall treffe ich inländische Touristen, die ihre Kulturdenkmäler bewundern.
Außer Armenien habe ich noch nie ein Land bereist, in dem die Menschen so stolz auf ihre Sprache und ihre Literatur sind. Überall sind Straßen und Plätze nach persischen Klassikern benannt. Ihre Statuen sind omnipräsent. Böse Zungen behaupten, in iranischen Haushalten gäbe es mehr Hafiz- als Koranausgaben. Diese Dichterverehrung geht allerdings weit über das Ästhetische hinaus: Sie werden fast wie Propheten verehrt. Man verspricht sich von ihren Gedichten konkrete Lebenshilfe. Literarische Hauptpilgerstätte ist Shiraz, wo die Mausoleen der Dichter Hafiz und Saadi stehen. Ich war zuerst skeptisch als ich hörte, fast jedes frisch vermählte Paar wolle das Hafiz-Denkmal besuchen. Vor Ort sehe ich dann tatsächlich viele junge Pärchen, die für ein Foto posieren. Teenager beiderlei Geschlechts stehen ehrfürchtig um Hafiz‘ Sarkophag herum und legen andächtig beide Hände darauf. Ich stelle mir kurz hunderttausende deutschsprachige Teenager vor, die nach Weimar pilgern, um ihren Goethe zu besuchen. Was für uns unvorstellbar ist, ist im Iran Alltag.

Die Wirtschaft des Landes leidet unter den Sanktionen, welche der Westen wegen des iranischen Atomprogramms verhängte. Das besagen diverse Statistiken und auch die hohe Inflationsrate spricht eine deutliche Sprache. Fährt man durch das Land, passt das Gesehene nur bedingt zu diesen Informationen. So ist die Verkehrsinfrastruktur Irans vorbildlich. Wir fuhren viele tausende Kilometer auf perfekt ausgebauten Autobahnen. Selbst die ASFINAG könnte hier in Sachen Schlaglochfreiheit noch einiges lernen. Wo die Sanktionen gut greifen, das ist der Autoimport. Westliche Autos auf persischen Straßen sieht man kaum, mit der Ausnahme von alten Peugots, weil es hier früher eine langjährige Kooperation mit Frankreich gab. Die Hotels sind für ein orientalisches Land ebenfalls in einem hervorragenden Zustand. Viele wurden in den letzten Jahren neu errichtet. Ich sehe immer wieder still gelegte Baustellen, aber es wird im ganzen Land intensiv gebaut. In den Geschäften findet man viele asiatische Markenprodukte, etwa von LG und Samsung. Wer sich das leisten kann, ist eine andere Frage.
Anders als von mir angenommen, sind selbst die Ladenöffnungszeiten liberaler als in Österreich. Geschäfte dürfen bis Mitternacht offen halten. In den Städten wird das auch ausgenutzt: Die Straßen sind bis nach Mitternacht belebt. So manches österreichische Städtchen würde das Straßenleben einer iranischen Kleinstadt beneiden.

Als ich nach drei Wochen wieder zurück in Teheran bin, weiß ich, wie einseitig die westliche Berichterstattung über den Iran ist. Im Mittelpunkt steht immer nur die schreckliche Staatsideologie des Landes. Wer sehen will, wie wenig relevant dieser Unfug für den Alltag von Millionen Iranern ist, der muss sich selbst vor Ort ein eigenes Bild machen: Der Iran ist von allen bisher von mir bereisten orientalischen Ländern das „europäischste“.

2 Gedanken zu „Iran – Vom widersprüchlichen Alltag einer säkularen Theokratie

  1. Herzlichen Dank für den Bericht und die Korrektur westlicher Propaganda.

    Ich habe allerdings schon den Eindruck, dass Iran bzw die Perser als große Kulturnation wahrgenommen werden. Auch die wissenschaftlichen Leistungen der Perser sind ja unumstritten. Die medizinischen Leistungen zB.

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