Plato: Der Staat

Diese Notizen entstanden von Herbst 2007 bis Frühjahr 2008 und werden hier zur leichtbaren Lesbarkeit zusammengefasst. Es handelt sich um meine zweite Lektüre des Buchs.

Erstes Buch

Platos “Politeia” zählt zu den faszinierendsten mir bekannten Büchern. Eine zweite, sorgfältige Lektüre war längst überfällig. Zur Erinnerung: Plato schrieb seinen umfangreichsten Dialog wahrscheinlich um 380 BCE und veröffentlichte damit einen Text, der zu den einflussreichsten der Geistesgeschichte zählt. Seit Jahrtausenden wird er sorgfältig rezipiert und sorgt für heftige Debatten. Alfred Whiteheads berühmtes Bonmot, die europäische Philosophiegeschichte bestünde nur aus Fußnoten zu Plato, bringt dies rhetorisch überspitzt auf den Punkt.

Die “Politeia” gilt als Platos Hauptwerk. Nimmt man diese Kategorisierung in dem Sinn, dass sich in ihm viele zentrale Motive seines Denkens finden, und es sich um das ästhetisch am sorgfältigsten komponierte Buch handelt, kann man dieser Einschätzung zustimmen. Um Platos Philosophie (und dessen Entwicklung) verstehen zu können, muss man freilich alle Dialoge lesen.

Während uns von Aristoteles nur seine Notizen überliefert sind (und nicht seine publizierten Werke), was die Lektüre mangels didaktischer Aufbereitung erschwert, präsentiert Plato seine Gedanken in der Form des philosophischen Gesprächs. Man darf deshalb die literarischen und ästhetischen Aspekte und deren Implikationen nie aus den Augen verlieren.

Wie sorgfältig Plato die Politeia komponiert hat, sieht man sehr schön am ersten Buch, das quasi den Rahmen zu den Gesprächen setzt. So ist es naturgemäß kein Zufall, dass die Handlung (für die gerne gegen 410 BCE als Zeitpunkt genannt wird) nicht im Zentrum Athens angesiedelt ist, sondern im Hafen Piraeus, einem Ort von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Athener. Durch eine Mauer mit der Stadt verbunden, stand er symbolisch für Athens Seeimperium, war während des Peloponnesischen Krieges lebenswichtig für den Nachschub und in den ersten Jahren Rückzugsgebiet für die Landbevölkerung als die Spartaner anrückten. Es brach zu dieser Zeit dort auch eine der größten Tragödien über die Athener herein: Die Pest. Schließlich sammelte sich während der Diktatur der Dreißig der demokratische Widerstand im Piraeus und eines der Hauptthemen der “Politeia” ist bekanntlich die Frage nach dem richtigen politischen System.

Das erste längere Gespräch des Sokrates findet mit Kephalos statt, einem ebenso alten wie reichen Mann, den Sokrates wenig taktvoll mit der Frage konfrontiert, wie es ihm so kurz vor dem Tod denn ginge, worauf sich ein geistvoller Dialog über Alter und Reichtum entwickelt.

Im Zentrum des ersten Buches steht aber eine Diskussion über Gerechtigkeit. Thrasymachos vertritt die These, Gerechtigkeit sei, was den Stärkeren nütze. Er setzt damit einen fulminanten Auftakt mit einer Geisteshaltung, die bis heute immer wieder in diversen Abwandlungen vertreten wird, und zu Zeiten der Athener “Blütezeit” auch Staatsräson war. Könnte folgendes Zitat nicht direkt von einer größenwahnsinnigen Romanfigur Dostojewkijs stammen oder irgendwo bei Nietzsche stehen?

Denn wer Ungerechtigkeit schmäht, tut dies nicht aus Scheu vor dem Unrechttun, sondern vor dem Unrechtleiden. So hat denn, Sokrates, die Ungerechtigkeit, wenn nur gehörig im Großen verübt, etwas viel Kraftvolleres, Vornehmeres und Herrenmäßigeres als die Gerechtigkeit […]
[344]

Sokrates tut sich durchaus schwer, diesen Standpunkt zu widerlegen, und versucht es unter anderem, in dem er Thrasymachos Widersprüche nachweist und (wie so oft) durch Analogien Ungereimtheiten in seiner Position aufzeigt.

Zweites Buch

Das erste Buch fungiert als eine Art Einleitung und rückt das Thema der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der Diskussion. Im zweiten Buch wird nun der literarische Rahmen für die weitere Vorgehensweise gesetzt. Dieser besteht in der Behauptung einer Analogie zwischen den Teilen der Seele und den Teilen einer Stadt. Vorher jedoch wird die Grundlagendiskussion des ersten Buches fortgesetzt. Glaukon fordert Sokrates auf dafür zu argumentieren, dass die Gerechtigkeit “an sich” wünschenswert ist (wie etwa die Gesundheit) und gleichzeitig auch gute Konsequenzen zeitigt. Diese These setzt sich von der These ab, dass die Gerechtigkeit zwar gute Folgen hat, aber an sich nicht wünschenswert sein muss. Nebenbei sei bemerkt, dass Plato in diese Kategorie auch die Erwerbsarbeit steckt. Diese sei zwar lästig, aber bringe doch eine Reihe von positiven Konsquenzen mit sich:

Denn diese Dinge werden wir zwar als beschwerlich bezeichnen, aber doch auch als nützlich für uns, und um ihrer selbst willen würden wir sie niemals wünschen, wohl aber um des Lohnes willen und der übrigen Vorteile, die aus ihnen hervorgehen.
[357]

Nachdem Glaukon als Illustration die Geschichte des Gyges erzählt hat (der einen Ring findet, der unsichtbar macht und deshalb ungestraft Verbrechen begehen kann), beginnt Sokrates mit dem Gedankenexperiment und konstruiert eine Stadt, in der nur die Grundbedürfnisse gedeckt werden können (Nahrung, Wohnung, Kleidung).

Glaukon kann sich mit diesem spartanischen Leben nicht anfreunden, weshalb Sokrates Luxusgegenstände hinzufügt. Dies setzt nun einen expansiven Wirtschaftskreislauf in Gang, der zwangsläufig aufgrund Ressourcenmangelns zu aggressivem Verhalten gegenüber benachbarten Städten führen muss. Deshalb muss zusätzlich die Militärkaste der Wächter eingeführt werden. Die sozialen Probleme, die damit verbunden sind (Aggression auch nach innen) führt schließlich zur Forderung, dass diese herrschende Kaste eine besondere Erziehung durchlaufen muss. Diese wird im nächsten Buch diskutiert.

Was mich an Plato fasziniert, ist die intellektuelle Unabhängigkeit seiner Ansichten. Damit ist nicht gemeint, dass es es keine geistesgeschichtlichen Einflüsse oder inhaltlichen Vorbilder gäbe, sondern dass er in der Lage ist, weitgehend von seinem kulturellen Umfeld zu abstrahieren, und rationale Lösungen ohne Scheuklappen zu suchen. Dass die Ergebnisse aus heutiger Sicht oft seltsam anmuten, ändert nichts an der Tatsache, dass Plato einer der unabhängigsten Köpfe war, welche die europäische Philosophie hervorbrachte.

Drittes Buch

In diesem Teil des Werks findet man die Fortsetzung der berüchtigten Forderung nach Zensur im literarischen Bereich. Zugespitzt könnte man sagen, dass Platos totalitäres Programm hier besonders augenscheinlich wird. Von der Voraussetzung ausgehend, dass erstens adäquate Erziehung nicht nur für die elitäre Klasse der Wächter maßgeblich zum Erfolg seines idealen Staatwesens beiträgt, und zweitens Erziehung zu einem großen Teil aus Nachahmung besteht, will er schlechte Einflüsse verbieten. Dieses Argument unterscheidet sich im Prinzip nicht von dem, was konservative Politiker heute fordern. Will man in der Gegenwart Kinder vor “Killerspielen” oder schlechten Einflüssen aus dem Internet schützen, will Plato die Kinder seines Staates vor nicht nachahmenswerten mythologischen Geschichten schützen. Sogar Homer wird von der Kritik nicht ausgenommen, stellt er doch die Götter sehr oft unwürdig (von Leidenschaften beherrscht) vor.

Darum müssen wir solchen Erzählungen den Abschied geben, auf daß sie unseren Jünglingen nicht den ungehemmten Trieb zur Schlechtigkeit erzeugen.
[392]

Auch “schlechte” musikalische Stile darf es in Platos Staat nicht geben, da Musik direkt das Seelenleben beeinflusse.

Im Zentrum des dritten Buches steht auch die Frage nach dem Umgang mit der Wahrheit in der Politik. Plato argumentiert hier sehr autoritär. Nachdem er (mythologisch begründet) seine Gesellschaft in drei verschiedene Klassen einteilt (solche mit goldenen, silbernen, bronzenen “Seelen”), rechtfertigt er “noble Lügen” aus utilitaristischem Blickwinkel: Es nütze dem Staat insgesamt und damit auch ihren Mitgliedern, wenn entsprechende “Wahrheitspolitik” betrieben wird.

Plato errichtet hier ein präfaschistoides Staatswesen mit einer Klassengesellschaft und einer ausgeprägten Medienpolitik. Interessant finde ich daran vor allem, dass sich dieser elaborierte Totalitarismus bereits so früh geistesgeschichtlich expliziert findet, und dass hier zahlreiche Fragen zum ersten Mal systematisch behandelt werden, welche bis heute die Diskussion bestimmen (Zensur und Medien, Erziehung, Nature/Nurture …). Bemerkenswert auch, wie schnell die Wahrheit einem angeblich höherwertigen Gut geopfert wird, speziell wenn man an das skeptische Wahrheitspathos vieler platonischer Dialoge denkt.

Viertes Buch

Nach den ersten drei Büchern dürfte fast jeder moderne Leser ein Unbehagen über Platos Staatstotalitarismus verspüren. Aber auch für die Zeitgenossen im alten Athen war dieser Idealstaat eine Provokation. So überrascht es nicht, dass Adeimantos das vierte Buch mit folgendem Einwand eröffnet:

Was wirst du nun, mein Sokrates, zu deiner Verteidigung vorbringen, falls jemand dir einwerfen sollte, mit dem Glück, das du diesen Männern bietest, sei es nicht weit her […]
[419]

Sokrates antwortet darauf, dass es nicht um das Glück von Gruppen oder Individuen geht, sondern um das Wohl des Staates insgesamt.

Im Mittelpunkt dieses Teils steht erneut Platos problematische Analogie zwischen Seele und Staat, auf der er seine Argumentation aufbaut. Wie ein guter Mensch, zeichne sich ein Staat durch vier Eigenschaften aus: Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit. Letztere bestehe darin, dass jeder Bürger der Tätigkeit nach gehe, zu der er am besten fähig ist (nach dem früher beschriebenen Klassensystem).
Anschließend führt Sokrates seine dreiteilige Psychologie bestehend aus Vernunft, Begierde und Geist (Seele) ein. Ein weiser Mensch hält alle drei Teile in Harmonie, wobei der Vernunft die lenkende Rolle zukommt. Diese Analogie zwischen Psyche und Staat wurde in der Forschung oft kritisiert, zu Recht meiner Meinung nach. In Anbetracht der Tatsache, zu welchen ontologischen Spitzfindigkeiten Plato in seiner Metaphysik fähig ist, wirkt die Gleichsetzung zwischen Individuen mit abstrakten sozialen Prozessen vergleichsweise plump. Trotzdem sind die psychologischen Passagen sehr aufschlussreich zu lesen, prägten sie die abendländische Psychologie doch bis in die Neuzeit. An dieser Stelle sollte man sich einmal mehr in Erinnerung rufen, dass es sich hier nicht um ein politisches Programm im engen Sinn handelt, sondern um ein radikales Gedankenexperiment.

Fünftes Buch

Dieses Buch enthält den gesellschaftspolitisch wohl radikalsten Vorschlag Platons: Die Aufgabe der klassischen Familie zu Gunsten eines geteilten “Besitzes” von Frauen und Kindern. Angereichert ist das mit einem charmanten Eugenikprogramm dahin gehend, dass der Staat durch Tricks besonders aussichtsreiche Erzeuger von Premiumnachwuchs zusammenbringt und auch dafür sorgt, dass diese öfters zur Kopulation schreiten dürfen wie von der Natur benachteiligte Paare:

Es müssen […] die besten Männer so häufig wie möglich den besten Frauen beiwohnen, den schlechtesten dagegen den schlechtesten so selten wie möglich. Und die Kinder der ersteren müssen aufgezogen werden, die der anderen nicht, sofern die Herde auf voller Höhe bleiben soll. Und von allen diesen Maßnahmen darf niemand etwas wissen außer die Herrscher selbst […]
[459]

Als Argument für dieses Arrangement bringt Sokrates die überragende Wichtigkeit des Zusammenhalts einer Gesellschaft ins Spiel, welcher durch dieses kommunitäre Zusammenleben optimiert würde.

Positiv davon setzt sich Platos Gleichheitsvorstellung zwischen den beiden Geschlechtern ab, speziell vor dem Hintergrund der altgriechischen Machogesellschaft betrachtet:

Es gibt also […] keine die Staatsverwaltung betreffende Beschäftigung, die der Frau als Frau oder dem Manne als Mann zukäme; vielmehr sind die natürlichen Anlagen auf ähnliche Weise unter beiden Geschlechtern verteilt, und naturgemäß hat die Frau ebenso wie der Mann Anspruch auf alle Beschäftigungen, bei allen aber ist das Weib schwächer wie der Mann.
[455]

Sechstes Buch

Dieses und die nächsten Bücher werden gerne die “philosophischen” genannt, weil hier theoretische Fragestellungen im engeren Sinn abgehandelt werden. Zuvor jedoch geht es einmal mehr um die Rolle des Philosophen in der Polis. Plato greift erneut auf eines seiner Lieblingsbilder zurück: Auf das Schiff. Der Philosoph sei wie der Steuermann auf einem Schiff der Bestqualifizierte, um den Staat zu lenken. Er beschreibt die Situation, die entstünde, setzten die Matrosen den Steuermann ab und übernähmen selbst ohne Qualifikation die Schiffsführung: Inkompetenz und Gefahr wären die Folge. Warum also sollten normale Bürger die Regierungsgeschäfte übernehmen? Ein weiterer Baustein in seiner Ablehnung der Demokratie.

Sokrates setzt mit einer unfreundlichen Beschreibung des politischen Alltags und der mangelnden intellektuellen Begabung seiner Mitmenschen fort. Die meisten hätten keinen Sinn für geistige Fragestellungen. Die Zuhörer des Sokrates und auch die Leser des “Staates” warten nun gespannt, auf die entscheidende Enthüllung seiner philosophischen Konzeption. Was ist dieses weitreichende Wissen, das den Philosphenkönig zum Herrschen auszeichnet? Es ist die Idee der Ideen: die des Guten.
Zu Beginn vermeidet Sokrates zu präzisieren, was das Gute nun eigentlich sein soll, und gibt stattdessen ex negativo Beschreibungen, was viele fälschlicherweise für gut halten. Von Glaucon damit konfrontiert, versucht Sokrates eine Antwort, in dem er erst zwischen dem Reich der Sinne und dem des Seins unterscheidet. Im Bereich des Seins und der Erkenntnis spiele sie eine ähnliche Rolle wie die Sonne für das Reich des Sinne. Die Sonne sei die Ursache für Licht und damit Leben. Die Idee des Guten sei die Ursache für Wissen und Wahrheit.

Das ist aus heutiger Sicht natürlich alles sehr vage formuliert. Man sollte sich aber bei der Lektüre immer vor Augen halten, dass Plato der erste war, der in dieser Ausführlichkeit diese theoretischen Kategorisierungen vorgenommen hat und seine scharfen Alltagsbeobachtungen seiner Mitmenschen bis heute aktuell sind.

Siebtes Buch

Dieses siebte Buch zählt wohl zu den berühmtesten Texten der Philosophie, eröffnet es doch mit dem Höhlengleichnis. Sokrates verwendet es dazu, seinen jungen Zuhörern seine Ontologie näherzubringen. Man kann die gefesselten Menschen, welche die Schatten an den Wänden für reale Gegenstände halten, auch als mächtige Metapher für (fehlende) Aufklärung sehen, was im 18. Jahrhundert nicht selten vorkam, sowie als Kritik an der mangelnden Bildung der Masse und den Schwierigkeiten der Wissens-Zwangsbeglückung. Laut Plato waren die Höhlenbewohner ja alles andere als glücklich als man ihnen zum ersten Mal von der Leben außerhalb der Höhle und der Existenz der Sonne berichtete.
Angesichts des totalitären Staatsentwurfs Platos, entbehrt diese Aufklärungsbilderwelt natürlich nicht der Ironie.
Im weiteren Verlauf des Buches wird die Frage diskutiert, welche Wissensgebiete für Platos Herrscherklasse am Wichtigsten sei, und man bekommt ein hübsches Plädoyer für Mathematik und rationales Denken geboten, das ich immer wieder gerne lese. Zum Abschluss erfolgt erneut eine prominente Stelle, nämlich die von Sokrates eingeführte epistemologische Hierarchie: An erster Stelle steht die Wissenschaft gefolgt von der mathematischen Verstandeserkenntnis. An dritter Stelle der Glauben (nicht religiös gemeint) und die Bildlichkeit, um die Übersetzung Otto Apelts zu übernehmen.

Achtes Buch

Am Ende des siebten Buches wird eine zentrale Frage angeschnitten: Ist dieser Idealstaat überhaupt möglich? Sokrates ist sich der Schwierigkeiten bewusst und macht deshalb einen radikalen Vorschlag: Bei der Gründung des Staates müssen alle Bewohner, die älter als zehn Jahre sind, aus der Stadt geschickt werden. Plato-Interpreten weisen zurecht darauf hin, dass man das nur als Euphemismus für das Töten der erwachsenen Bevölkerung sehen kann, eine in der Antike nicht unübliche Kriegspraxis.

Nun stellt sich die berechtigte Frage: Mein Sokrates das ernst? Oder ist es eine implizite reductio ad absurdum dieses Idealstaates und beendet damit das Gedankenexperiment, indem er es scheitern lässt? Ich habe mir selbst noch keine endgültige Meinung darüber gebildet, literarisch beurteilt würde diese Grausamkeit nicht kohärent mit dem Charakter des Sokrates’ sein, gemessen an allen platonischen Dialogen.

Bestechend ist auf alle Fälle, dass Plato hier bereits das Revolutionsdilemma illustriert: Egal wie gut die Intentionen und wie perfekt ausgearbeitet die Gesellschaftsutopie auch ist: Die praktische Umsetzung ohne Gewalt scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, was die Geschichte ja auch hinreichend belegt.

Das achte Buch ist vor allem der theoretischen Diskussion der möglichen Staatsverfassungen gewidmet, konkret der Timokratie, der Oligarchie, der Demokratie sowie der Dikatur. Es wird einerseits das System “strukturell” beschrieben, andererseits die Charaktere untersucht, die zu diesen Verfassungen passen. Viel hat sich leider nicht geändert, wenn man an aktuelle Regimie denkt und Folgendes liest:

Indem sie nun als auf diesem Wege des Gelderwerbs fortschreiten, kommt die Tugend bei ihnen in demselben Maße in Mißachtung, in dem das Geld in ihren Augen an Wert gewinnt. Oder steht es mit dem Unterschied von Reichtum und Tugend nicht so, daß sie gleichsam auf die Schalen einer Wage gelegt sind, von denen die eine steigt, während die andere sinkt?
[550]

Abschließend sei noch eine Stelle zitiert, die sehr schön belegt, wie alt und universal die Kritik an der Jugend ist, sie wiederholt sich seit tausenden von Jahren:

[…] der Lehrer hat unter solchen Verhältnissen Angst vor den Schülern und umschmeichelt sie, die Schüler haben keine Achtung vor den Lehrern und ebensowenig vor ihren Aufsehern; und überhaupt stellen sich die Jüngeren den Älteren gleich und suchen ihnen den Rang abzulaufen in Worten und Taten, während die Alten sich traulich mit den Jünglingen einlassen und, ganz im Geist der Jugend, unerschöpflich sind in Witzeleien und Spaßhaftigkeiten, um nur ja nicht griesgrämig und herrisch zu erscheinen.
[563]

Im zweiten Teil des fünften Buchs kommt Plato auf eine seiner zentralen sozialphilosopischen Vorstellungen zu sprechen: Die Herrschaft der Philosophen, die er als Liebhaber der Wahrheit beschreibt. Um zu erläutern, was er damit meint, sind die letzten Seiten dieses Abschnitts einer ersten erkenntnistheoretischen Abhandlung gewidmet: Er unterscheidet zwischen Wissen und Meinung und führt damit eine epistemologische Skala ein, auf die er im Folgenden aufbauen kann.

Neuntes Buch

Diese Buch ist zwei Themen gewidmet: Der Kritik an der Demokratie und der Diktatur als Staatsform. Es sollte inzwischen ja hinreichend klar geworden sein, dass Platon ein Demokratie-Kritiker war, obwohl er an einer Stelle durchaus einräumt, dass es wohl das fairste politische System sei, und das sein Idealstaat nur über die Demokratie als Übergangsform zu erreichen wäre.

Um meine hier oft wiederholte These zu illustrieren, dass Plato eine Menge intellektueller Grundlagenarbeit leistete, ein Beispiel aus dem neunten Buch. Freud hat die Psychoanalyse ins Leben gerufen? Von wegen:

Diejenigen, die sich im Schlafe regen, wenn der andere Seelenteil, der vernünftige nämlich und gesittete und jene herrschende, ruht, während der tierische und der Wildheit ergebene, mit Speise und Trank gefüllt, sich vor Unbändigkeit nicht zu lassen weiß und den Schlaf abschüttelnd loszustürmen und seinen Trieben zu frönen sucht. In solchem Zustand scheut er bekanntlich, bar und ledig jeglichen Schamgefühls und jeglicher Besinnung wie er dann ist, vor nichts zurück. Denn er bedenkt sich keinen Augenblick, der eigenen Mutter, wie er wähnt, beizuwohnen oder irgend welchem anderen Wesen, sei es Mensch, Gott oder Tier, und jede Blutschuld auf sich zu laden […]
[571]

Die Kritik an der Tyrannei ist psychologisch so hellsichtig und heute noch gültig, so dass man sie allen gerne zu lesen gäbe, die sich derzeit mit Iran und vergleichbaren Staaten herumschlagen müssen.

Zehntes Buch

Wer im Laufe der Lektüre meinte, Platos Literaturkritik sei im zweiten und dritten Buch abgeschlossen worden, wird nun überrascht zur Kenntnis nehmen müssen, dass er am Ende zu einer Fundamentalkritik an der Literatur ausholt. Er kritisiert sie von zwei Seiten: Metaphysisch und psychologisch. Ausgehend von seiner realistischen Ontologie, in der abstrakte Formen in der Hierarchie des Seins ganz oben stehen, schneidet die Kunst der Nachahmung denkbar schlecht ab, ahmt diese doch nicht einmal die Formen nach, sondern physische Gegenstände. Damit ist sie quasi eine Nachahmung zweiter Stufe und viel zu weit vom “wahren Sein” weg, um noch interessant zu sein.

Die psychologische Literaturkritik, lässt sich in moderner Begrifflichkeit so zusammenfassen, dass Literatur dem Irrationalismus Vorschub leiste. Die Geschichten seien bildhaft und emotional aufgeladen und sprächen dadurch die “unvernünftigen” Teile der menschlichen Psyche stark an und verstärkten deshalb unerwünschte Emotionen. Aristoteles wird bekanntlich in seiner Poetik diese Punkte aufgreifen, ihnen aber positive Effekte zuschreiben, nämlich die Reinigung von gewissen Affekten durch die Literatur.

Platos “Staat” zu lesen ist jedes Mal wieder eine spannende Reise in provozierendes Terrain. Es drängt sich nachhaltig die Frage auf, ob es sich bei seinem Idealstaat um ein warnendes Gedankenexperiment handelt, oder tatsächlich um eine von ihm vertretene Gesellschaftsutopie (für die meisten wohl -dystopie). Es gehört jedenfall zu den anregendsten Büchern der westlichen Philosophiegeschichte und sollte von allen gelesen werden, welche die europäische Geistesgeschichte verstehen wollen.

Plato: Der Staat

2 Gedanken zu „Plato: Der Staat

  1. Hallo,
    sehr schöne Zusammenfassung!
    Welche Übersetzung würden Sie empfehlen? Schleiermacher, Krapinger oder beide?
    Hätten Sie auch eine Empfehlung zu einem Kommentar dieses Werkes?

    Vielen Dank,

    Khadim

    1. Danke für den netten Kommentar.

      Ich habe Platon komplett in der (alten?) Meiner-Ausgabe von Otto Apelt gelesen. Bin eigentlich sehr zufrieden damit.

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