Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie

Corinos penible Rekonstruktion eines Schriftstellerlebens

Jahrzehntelang beschäftigt sich Karl Corino bereits mit Leben und Werk des Robert Musil (1880 – 1942) und zieht nun mit seiner gewichtigen Biographie ein vorläufiges Fazit dieser Bemühungen. Mehr als zweitausend faktenreiche Seiten erwarten den Interessierten. Etwa vierhundert davon sind akribischen Fußnoten vorbehalten, die Corinos Besessenheit, auch noch die entlegendsten Details aufzustöbern, besonders eindrucksvoll belegen. Man fühlt sich an den Faktenenthusiasmus des literaturwissenschaftlichen Positivismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erinnert.

Das Buch besteht aus fünfundvierzig Kapiteln, die in chronologischer Abfolge die Lebensstationen Musils behandeln. Einige davon beschäftigen sich ausführlich mit dem Umfeld des Autors, so mit Vorfahren und Verwandten (Kap. 2), dem Freund Johannes von Allesch (Kap. 7), oder mit dem (Vor)Leben seiner Gattin Martha (Kap. 12). Andere enthalten Exkurse, etwa über des Autors Beziehung zum Sport (Kap. 25) und Film (Kap. 32).

Für Musilkenner finden sich cum grano salis wenig neue Erkenntnisse, aber das ist mehr ein Verdienst als ein Versäumnis des Biographen, publizierte Corino doch viele seiner Ergebnisse bereits in Aufsätzen und in seinem Bildband „Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten“ (1988). Die Summe der lebensgeschichtlichen Forschung nun nicht mehr verstreut, sondern „enzyklopädisch“ in einem Band vorliegen zu haben, ist nicht nur aus Gründen der Bequemlichkeit höchst erfreulich.

Eine Stärke Corinos liegt darin, mit historischen Quellen zu arbeiten, um Licht auf Lebensumstände Musils zu werfen. Im dritten Kapitel „Im A-Loch des Teufels“ über dessen Kadettenjahre zitiert er beispielsweise die Selbstdarstellungen der Militärunterrealschule in Eisenstadt und der Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen, um diesen kakanischen Kitsch mit dem brutalen Alltag der Zöglinge zu kontrastieren. Dabei greift der Autor plausibel auf Memoiren des späteren Generals Edmund Glaise von Horstenau zurück.

Über Musils intellektuelles Weltbild ist viel geschrieben worden: Die Bandbreite der Positionen reicht von naturwissenschaftlich-rational bis zum wenig überzeugenden Postulat, der diplomierte Ingenieur sei ein Vorläufer postmoderner Beliebigkeit. Wer sich für Musils geistigen Werdegang interessiert, erfährt bei Corino zwar alle mehr oder minder bekannten Tatsachen über Buchlektüren und theoretischer Beschäftigung -, aber dieser positivistische Ansatz trägt nur bedingt zu einem Gesamtbild bei.

Das sechste Kapitel, welches Musils Philosophiestudium in Berlin zum Thema hat, ist leider eines der kürzesten des Buches. Abgesehen von einem kurzen Referat über Gestaltpsychologie hält sich Corino ziemlich bedeckt. Mehr als kompensiert wird dieses Defizit durch die ausführliche Schilderung des geschichtlichen und kulturellen Kontextes der einzelnen Lebenssituationen. Ob es sich um Wien oder Berlin, um Literatur- oder Verlagspolitik handelt, der Leser wird mit gebührlicher Ausführlichkeit darüber unterrichtet.

Die biographischen Verdienste des Buches sind seit seinem Erscheinen ausführlich und berechtigterweise gewürdigt worden. Zu kurz kam bisher eine Analyse von Corinos Methode. Sein legitimes Ziel, Musils Leben so penibel wie möglich zu rekonstruieren, stößt immer wieder an eine Grenze: der des fehlenden Materials. Nun ist es das Schicksal des Biographen, dass es zu gewissen Fragen keine adäquaten Quellen gibt. Mut zur Lücke zu bekennen und die Leserschaft darauf hinzuweisen, ist jedoch nicht der Weg, den Corino einschlägt.

Er treibt seinen Ansatz so weit, dass er Musils literarische Texte wörtlich als biographische Quellen zitiert, so als hätte Literatur exakt denselben Stellenwert wie Briefe, Tagebücher und andere Zeitzeugnisse. Eine wie auch immer geartete Differenz, sei es philosophisch (ontologisch, ästhetisch) oder sei es sprachlich (literaturtheoretisch, pragmatisch), wird durch dieses Verfahren explizit nicht anerkannt, anderenfalls wäre das umstandslose Zitieren von literarischen Texten als biographische Belege undenkbar.

Die literaturtheoretischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte mögen extrem kontrovers geführt worden sein. Als kleinster gemeinsamer Nenner ließ sich aber immer feststellen, dass Literatur ein polyvalenter, vielschichtiger Gegenstand sei, der sich nur unter großen semantischen Verlusten in einen nicht literarischen Text transferieren lasse. Diese Feststellung würde ein Anhänger der Empirischen Literaturwissenschaft ebenso unterschreiben wie ein Dekonstruktivist, um zwei möglichst weit voneinander gelegene Positionen zu nehmen.

Corinos befremdliche Vorgehensweise lässt sich am besten anhand des neunten Kapitel zeigen, in dem er sich mit dem schwierigen Verhältnis Musils zu Herma Dietz und deren frühen Tod beschäftigt:
„Durch die Krise mit Herma veränderte sich auch Musils Verhältnis zu seiner Mutter. Er kam nicht darum herum, Vergleiche zwischen Hermine I und Hermine II zu ziehen.“ (281)
Der Beleg für diese Änderung der Beziehung Musils zu seiner Mutter? Ein Zitat aus der Novelle „Tonka“ auch „die Mutter war einmal ein Mädchen, das mehr noch als Tonka [!] zu ihm gepasst hätte.“ (281) Herma, die reale Freundin, und Tonka, eine literarische Kunstfigur, werden im gesamten Kapitel verwendet als seien beide identisch.

An manchen Stellen fühlt man sich sogar an Platons Idealstaat erinnert, aus dem der Philosoph bekanntlich alle Dichter verbannt wissen wollte, weil diese die Realität durch Lügen entstellten. Als Corino auf die Möglichkeit zu sprechen kommt, dass Musil Herma mit Syphilis infiziert haben könnte, ist er empört darüber, dass der männliche Held in „Tonka“ nicht auch krank ist: „[…] zeigen, wie heftig Musil versuchte, den Verdacht gegen sich herunterzuspielen, – lässt er sich in der Novelle über Tonka doch sogar zu der (die Aporie des Lesers steigendern Behauptung) hinreißen [!], die Ärzte hätten an seinem Helden „ja nie eine Krankheit finden können“ (P 303).“ (282)
Corino macht Musil den moralischen Vorwurf, dass er in einem literarischen Werk von einem biographischen Faktum abweiche, so als sei eine Novelle eine eidesstattliche Erklärung, die nur der Wahrheit verpflichtet sei. Liegen jedoch genügend nicht-literarische Quellen vor, was erfreulicherweise die Regel ist, findet man in Corino einen hervorragenden Ausleger und Vermittler, der seinem „Forschungsobjekt“ auch mit hinreichender Distanz begegnet.

Das Buch ist, mit der erläuterten methodischen Einschränkung, ein kaum mehr zu übertreffender Meilenstein in der biographischen Musilforschung, dessen Lektüre unbedingt lohnt.

Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie (Rowohlt) ISBN 3-498-00891-9 Gebunden 2048 Seiten 78 Euro

[Literatur und Kritik Juli 2005; © Christian Köllerer]

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