Lessing: Reimarus-Veröffentlichungen

1774 begann Lessing in seiner Schriftenreihe „Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ Auszüge aus einem religionskritischen Manuskript abzudrucken. Eine heftige Debatte war die Folge und Lessings Schriften gegen die Anwürfe des Hamburger Pastors Goeze nahmen hier ihren Anfang.

Liest man heute die Auszüge aus dem Manuskript des Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), Professor für orientalische Sprachen an einem Hamburger Gymnasium, kann man Lessings Faszination sofort nachvollziehen: Ein ebenso denk- wie schreibgewandter Freigeist wendet sich den Dogmen der Religion zu und untersucht diese mit rationalen Methoden. Das Ergebnis ist naturgemäß wenig schmeichelhaft, etwa wenn Reimarus penibel die Widersprüche der Auferstehungsgeschichte erläutert:

Sagt mir vor Gott, Leser, die ihr Gewissen und Ehrlichkeit habt, könnet ihr dies Zeugnis in einer so wichtigen Sache für einstimmig und aufrichtig halten, das sich in Personen, Zeit, Ort, Weise, Absicht, Reden, Geschichten, so mannigfaltig und offenbar widerspricht? Zween dieser Evangelisten, nämlich Marcus und Lucas, haben es nur aus Hörensagen, was sie schreiben;: sie sind keine Apostel gewesen, und verlangen nicht einmal zu sagen, daß sie Jesum nach seinem Tode selber mit ihren Augen gesehen hätten. Matthäus und Johannes, die Jesum als Apostel selber wollen gesehen haben, widerlegen sich einander am allermeisten: so daß ich frei sagen mag, es sei fast kein einziger Umstand, von dem Tode Jesu an bis zu Ende der Geschichte, darin ihre Erzählung zusammen zu reimen wäre. Und doch ist sehr merklich, daß sie alle beide die Himmelfahrt Jesu gar weglassen: er verschwindet bei ihnen, und man weiß nicht, wo er geblieben: gleich als ob sie nichts davon wüßten, oder als ob dieses eine Kleinigkeit wäre

[…]

[Die Jünger] machen es nicht wie andere aufrichtige Leute, die mit Wahrheit umgehen, und sich frei auf mehrere Menschen berufen dürfen, die ihn hätten kommen, weggehen, wandern sehen: nein, er stehet bei ihnen, ohne zu kommen, er kömmt auf eine menschlichen Augen unsichtbare Art, durch verschlossene Türen, durchs Schlüsselloch, und so verschwindet er wieder vor den Augen: niemand auf der Gasse oder im Hause siehet ihn kommen und weggehen. [S. 455f.]

Seine „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ ist ein fulminantes Werk und gehört zweifellos zu den wichtigsten deutschen Texten der Aufklärung. Desto abstruser erscheint einem die Druckgeschichte. Im 18. Jahrhunderten kursierten einige Manuskripte in aufgeklärten Kreisen. Zu einem Druck kam es nie, weil die Familie Reimarus auch lange nach dem Tod des Verfassers eine Veröffentlichung ablehnte. So erschien die Apologie in Buchform zuerst 1972 (sic!), herausgegeben von Gerhard Alexander, und ist heute nicht einmal mehr antiquarisch zu finden. Sollten hier Verleger mitlesen: bitte sofort neu auflegen!

Hanser Werkausgabe Band 7; Theologiekritische Schriften I und II

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