Homer: Ilias

Lange ist es her, seit ich die Ilias zum ersten Mal las. Mein mehrmals gelesenes Lieblingsbuch Homers ist die Odyssee. Sie kam mir literarisch bei weitem reichhaltiger und abwechslungsreicher vor als das Kriegsepos. Nach der neuen Lektüre bin ich geneigt, dieses Urteil zu revidieren, was vermutlich auch mit den pessimistischen politischen Aussichten unserer Tage zusammenhängt. Die Ilias ist so voller Hass und Gewalt, dass sie einen würdigen weltliterarischen Auftakt zur europäischen Geschichte bietet. Ein Teil dieses Eindrucks mag mit der Übersetzung Raoul Schrotts zusammenhängen, dessen Wortwahl deutlich drastischer und direkter ist, als jene aller anderen Übersetzer. Die philologische Korrektheit kann ich nur bedingt beurteilen, aber es gibt sicher keine Übertragung, welche eine ähnlich starke Wirkung auf den Leser hat. Man kann sich dadurch besser vorstellen, welche Reaktionen ein Vortrag in der Antike bei den Zuhörern auslöste.

Im Mittelpunkt steht bekanntlich der kleinliche Streit zwischen Agamemnon und Achilleus: Ersterer nutzt seine Macht als Feldherr, um dem größten Kriegshelden der Griechen sein „Beutemädchen“ Briseis abzunehmen. Letztendlich soll der Streit mit dem Priester Chryses beendet werden, dessen Fluch eine schwere Seuche über das Lager der Griechen brachte. Achilleus ist darüber so empört, dass er in einen Kampfstreik tritt, der letztendlich die Griechen viele Tote kostet und fast zum Verlust des Krieges führt. Homer spiegelt hier strukturell die Ursache des trojanischen Krieges, der durch die Entführung Helenas durch Paris ausgelöst wird. Machtmissbrauch führt damit zu einer irrationalen Wut.

Das Epos ist vollgespickt mit Passagen, welche zeigen, dass sich anthropologisch das grundsätzliche Verhalten der Menschen in den letzten 2500 Jahren nur wenig weiterentwickelt hat. Um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, die kritische Jugend gegenüber der älteren Generation:

der jugend stehen selbst vor uns herrschern so offene worte zu.
(IX, 59)

Wer glaubt, die Welt Homers sei ausschließlich auf das archaische Kriegertum fixiert, täuschte sich. Folgende Passage zeigt hübsch, dass man sehr wohl unterschiedliche menschliche Talente zu schätzen wusste:

man kann nicht in allem glänzen: dem einen verleiht [Zeus]
das nötige talent um zu kämpfen, dem anderen zum tanz
einem dritten, die lyra zu spielen und dazu zu dichten –
dem nächsten wiederum schenkt der weitsichtige zeus
ein gehirn: das ist auch nicht zu verachten; es profitiert
jeder davon wenn einer besser als jeder andere begreift
wie man sich rettet.
(XIII, 730)

Das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern verdient eine nähere Betrachtung. Bereits Platon kritisierte, dass Homer die Überwelt mit allen schlechten Eigenschaften der Menschen ausstattet. Das gegenseitige Verhältnis ist überwiegend zerrüttet. Die Götter kümmern sich rücksichtslos um ihre eigenen Favoriten während des Krieges und bekämpfen sich schließlich auch gegenseitig. Auch verbal vergeben sich beide Seiten nichts. Nicht nur beklagen die Götter sich über die Indolenz der Menschen:

vater zeus, gibts denn auf der ganzen welt keinen menschen mehr
der es noch für wert hält uns göttern zu verraten was er vorhat?
[VII, 456]

Auch die Menschen nehmen mit ihrer Kritik kein Blatt vor den Mund:

himmelherrgott vater zeus! jetzt erweist sich, was du bist –
ein geborner lügner! nie hätt ich gedacht, daß die griechen
unsrer unbesiegbaren durchschlagskraft widerstehen können!
(XII, 164)

Das ist insofern religionshistorisch sehr bemerkenswert, weil hier noch kaum die Spur jener späteren Unterwürfigkeit zu erkennen ist, die den Monotheismus auszeichnet. Der monotheistische Gott fordert strikte Unterordnung und strikten Gehorsam, während Zeus den obigen Ausbruch nicht zum Anlass nimmt, den Griechen dauerhaft seine Gunst zu entziehen.

Eine andere Perspektive in diesem Zusammenhang ist jene des freien Willens. Für die meisten guten oder schrecklichen Ereignisse des Trojanischen Krieges werden die Götter verantwortlich gemacht. Auch für konkrete Kampfhandlungen. Trifft ein Speer nicht, wird er nicht selten von einem Gott abgelenkt. Wer lebt und wer stirbt, ist in der Hand der Götter. Hier besteht also noch ein weiter Weg zu den eigenverantwortlichen Individuen, die wir im klassischen Griechenland durch die Literatur und Philosophie kennenlernen werden.

Die Eroberung von Städten war und ist immer einer der grausamsten Ereignisse in jedem Krieg. Nachzulesen ist das in vielen antiken Quellen, nicht zuletzt im Alten Testament. Auch Homer findet drastische Worte für diese Massaker:

was eine stadt an greueln
alles mitmachen muß, wenn sie erobert und gebrandschatzt wird:
männer, die abgestochen, häuser, die in schutt und asche gelegt
die kinder, die versklavt, all die frauen, die vergewaltigt werden.
(IX, 591)

Frauen waren damals wie heute die selbstverständlichen Opfer:

darum soll keiner auf rückkehr drängen, bevor er nicht
die frau eines troianers vergewaltigt hat: rein schon aus rache.
(II, 354)

Am Ende einer langen Schlacht ist das Feld mit so vielen Leichen übersät, dass es schwierig wird, einen Sitzplatz zur Beratung zu finden:

sie durchquerten den graben hinaus auf die ebene
und ließen sich auf dem einzigen flecken der erde nieder
der nicht voll leichen war
(X, 198)

Die Brutalität der Gewaltdarstellung braucht sich nicht hinter den Produkten der zeitgenössischen Unterhaltungsindustrie wie The Walking Dead zu verstecken. Gehirne spritzen, Gedärme machen sich selbständig und Köpfe rollen:

dolon fiel auf die knie, bettelte um sein leben und versuchte
flehentlich diomedes kinn zu berühren – doch der holte aus
mit seinem schwert, schlug es ihm mitten durch sein genick
die sehnen, adern und muskeln – daß der noch immer
quengelnde kopf in den dreck fiel
(X, 54)

Auch an Spezialeffekten fehlt es nicht. Wenn etwa Hephaistos mit Feuer den Flussgott Xanthos bekämpft, würde das jedem Hollywood-Blockbuster zur Ehre gereichen:

da ließ hephaistos eine übernatürliche feuersbrunst ausbrechen.
die flammen flackerten am rande der ebene auf; sie fraßen sich
auf die mitte zu, verschlangen die überall angespülten troianer
die achilleus getötet hatte, und zehrten an der glitzernden flut (…)
so brodelte der skamandros jetzt
in der alles verschmorenden hitze – und seine wasser kochten
wollten in dem flammenmeer nicht mehr fließen und stockten
unter den feuerwellen die hephaistos über sie hinbranden ließ
(XXI, 342)

Die Reaktion der griechischen Halbwüchsigen auf solche Schilderungen damals dürfte nicht viel anders gewesen sein als jene der heutigen Teenager im nächsten IMAX-Kino.

Ein anderer sich ständig wiederholender Aspekt der Kriegsschilderung ist der gierige Bereicherungsaspekt. Es war nämlich üblich, dem getöteten Krieger seine wertvolle Rüstung als Beute auszuziehen, was zu unschönen Szenen führt:

das räudige Handwerk des Krieges: kaum war er seiner wunde erlegen
da stritten sich die achaier und die troianer schon um seine leiche
mann gegen mann sich ineinander verbeissend wie die wölfe.
(IV, 471)

Man kann die Ilias aber auch noch ganz anders lesen, nämlich als Alltags- und Naturgeschichte der alten Griechen. Diese Lesart hat mich dieses Mal am meisten fasziniert. Homer verwendet als Metaphern überwiegend welche aus dem Bereich der Natur- und des alltäglichen Lebens seiner Zeitgenossen. Es gibt mehr als 300 dieser bildhaften Passagen, etwa 1100 Verse, die damit ein Sechzehntel des Textes ausmachen. Wir bekommen dadurch eine ausführliche Alltagsgeschichte des archaischen Griechenland.

Wie verläuft der Alltag?

und wie die reihen der schnitter im feld eines reichen herrn
von gegenüberliegenden seiten aufeinander zugehn, mähen
und die sensen durch den weizen oder die gerste schwingen
daß die ähren nur so fallen, so kamen troianer und griechen
aufeinander zu: rechts und links wurden sie niedergemacht
(XI, 67)

wie zwei bauern die sich meßruten in der hand, drüber streiten
wo der grenzstein des gemeindefelds, das sie unter sich aufteilen
zu liegen hat, und um einen schmalen streifen zu raufen kommen
der nicht breiter als der wehrgang ist, der die zwei heere trennte
(XII, 421)

der kampf war so ausgewogen als würde eine arbeiterin ihrem brotherrn
die gesponnene wolle abliefern und genau darauf achten daß sie
auch dem eingewicht entspricht – denn der lohn für ihre kinder
ist erbärmlich genug
(XII, 434)

so dick wie die schmiere an einer ochsenhaut, die der gerber
seinen lehrlingen zum strecken gibt, die sich dann ringsum
im kreis hinstellen, um mit vereinter kraft daran zu ziehen
bis ihre hände das riesige ochsenfell glatt gespannt haben
damit es austrocknet und das fett in die poren eindringt –
so zerrten sie von allen seiten an der leiche, hin und her
(XVII, 388)

wie saubohnen oder kichererbsen von einer holzschaufel
wenn sie beim worfeln auf dem dreschboden in den wind
geworfen werden, um sie von ihren hülsen zu trennen –
so prallte der bittere schaft von menelaos‘ bronzepanzer
und schlug erst weit entfernt irgendwo in den boden ein
(XIII, 588)

Selbst detaillierte geologische Beobachtungen verwendet Homer zur Veranschaulichung:

hektor brach über die achaier herein riesig wie ein felsbrocken
der einen berghang herunterrollt, nachdem ihn der wasserfall
eines vom winterregen angeschwollenen baches untergraben
und von der kante gespült hat, daß er im hohen weiten sprung
mitten durch die bäume kracht, der ganze wald widerhallend
von einem unaufhaltsamen poltern
(XIII, 138)

Auch eine Vielzahl an Beispielen aus dem semantischen Feld des Meeres bzw. der Seefahrt könnte ich noch anführen. Die zahllosen, unglaublich genau beobachteten Löwenbilder erwecken den Eindruck, als hätte Homer als Hobbyzoologe sein halbes Leben lang nichts anderes getan, als diese Raubkatzen zu beobachten.

Es wäre deswegen also ein großer Fehler, die Ilias auf ein berühmtes Kriegsepos zu reduzieren. Wie bei allen Klassikern liegen die kulturell und ästhetisch interessantesten Aspekte nicht an der Oberfläche.

Homer: Ilias. Übertragen von Raoul Schrott Kommentiert von Peter Mauritsch

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