Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802

d t v (Amazon Partnerlink)

Hätte es im 19. Jahrhundert schon Bestseller-Listen gegeben, Seumes Reisebericht über Italien hätte diese lange dominiert. Bis heute erfreut er sich einer gewissen Beliebtheit und wird regelmäßig neu aufgelegt. Das überrascht nicht, ist es doch ein erfrischend modernes, unverzopftes Buch.

Schon das Vorhaben war ambitioniert: Ein Spaziergang von Leipzig nach Syrakus und zurück. Italien war Anfang des 19. Jahrhunderts durch Kriege und den teilweisen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung ein oft anarchistisches Land, in dem Räuberbanden ungestraft ihr Unwesen trieben. Sucht man eine moderne Analogie, böte sich vielleicht ein Spaziergang durch Nordafghanistan an, zumal man Seume als Protestant im katholischen Italien als argen Ketzer wahrnahm, und er deshalb auch einige Bekehrungsversuche, freilich mehr komisch-wohlwollender Natur, über sich ergehen lassen musste.

Was Seumes Reisebericht von den meisten anderen seiner Zeitgenossen unterscheidet, ist zum einen seine Herkunft, zum anderen seine politische Haltung. Seit langem gehörte es zum guten Ton junger Adliger und wohlhabender Bürgersöhne (Goethes Vater etwa), zu einer „grand tour“ durch Europa aufzubrechen. Wir sind von dieser Klientel auch reichlich mit Reiseberichten gesegnet. Seume dagegen stammte aus vergleichsweise ärmlichen Verhältnissen, nach dem Bankrott des Vaters als Gastwirt fand sich die Familie am Ende der sozialen Skala wieder. Dies führte selbstverständlich zu einem anderen Blick auf die sozialen Verhältnisse als ihn die verwöhnte Jugend aus reichem Hause nach Italien mitbrachte. Zwar beschäftigt sich auch Seume immer wieder mit den kulturellen Sehenswürdigkeiten seiner Reiseroute, oft durchsetzt mit feiner Ironie, sein Hauptinteresse liegt aber klar auf den sozialen und politischen Verhältnissen.

Womit schon der zweite große Unterschied zu vielen zeitgenössischen Reiseschriftstellern genannt ist: Seume war ein überzeugter Anhänger der Aufklärung. Seine Kritik an den unfähigen Eliten und speziell an Kirche und Klerus zieht sich mit einer wohltuenden Offenheit durch das Buch:

Vor allen Dingen war sein Gesang charakteristisch. Ich habe nie einen so entsetzlichen Ausdruck von dummer Hinbrütung in vernunftlosem Glauben gehört. Wenn ich länger verdammt wäre solche Melodien zu hören, würde ich bald Materialismus und Vernichtung für das Konsequenteste halten: denn solche Seelen können nicht fortleben. (76)

Seumes kluge, konzise Beobachtungen und die rhetorisch geschickte Aufbereitung seiner Aufzeichnungen sind eine große Lesefreude und eines der besten deutschen Bücher dieser Zeit.

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