Lob der Großstadt

Wenn ich auf dem Land bin und keinerlei Anregung habe, verkümmert mein Denken, weil mein ganzer Kopf verkümmert, in der Großstadt gibt es diese katastrophalen Erfahrungen nicht. Die Menschen, die aus der Großstadt weggehen und die auf dem Land ihren Geistesstandard halten wollen, wie der Paul sagte, müssen schon mit einem ungeheuren Potential und also mit einem unglaublichen Vorrat an Gehirnsubstanz ausgestattet sein, aber auch sie stagnieren über kurz oder lang und verkümmern und meistens ist es dann, wenn sie diesen Verkümmerungsprozeß zur Kenntnis genommen haben, für ihre Zwecke schon zu spät

[…]

Einem Geistesmenschen nimmt das Land alles und gibt ihm (fast) nichts, während die Großstadt ununterbrochen gibt, man muß es nur sehen und naturgemäß fühlen, aber die wenigsten sehen das und sie fühlen es auch nicht und so zieht es sie auf die abstoßend sentimentale Weise auf das Land, wo sie in jedem Fall geistig in der kürzesten Zeit ausgesaugt, ja ausgepumpt und schließlich und endlich zugrunde gerichtet werden. Auf dem Land kann sich der Geist niemals entwickeln, nur in der Großstadt, aber heute laufen sie alle aus der Großstadt hinaus auf das Land, weil sie im Grunde zum Gebrauch ihres in der Großstadt natürlich radikal geforderten Kopfes zu bequem sind, das ist die Wahrheit und lieber in der Natur, die sie, ohne sie zu kennen, in ihrer stumpfsinnigen Blindheit sentimentalistisch bewundern, eingehen, als die ungeheuren sich mit der Zeit und ihrer Geschichte auf das wunderbarste vergrößernden und vermehrenden Vorteile der Großstadt und vor allem der heutigen Großstadt in Anspruch zu nehmen, wozu sie wahrscheinlich aber gar nicht imstande sind. Ich kenne das tödliche Land und fliehe es, wann ich nur kann […]

[Thomas Bernhard, Wittgensteins Neffe. Frankfurt 1985]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

code