Herodot: Historien

Diese Notizen schrieb ich Ende 2001 und fasse sie hier zur besseren Lesbarkeit in einem Artikel zusammen.

Buch I

In die “Historien” hineingelesen hatte ich schon mehrmals, zu einer Lektüre des Gesamtwerks kam es bis jetzt noch nie. Ein Versäumnis dem ich nun behutsam – also Buch für Buch – abhelfen will.

Die dtv-Ausgabe greift auf die Übersetzung von Walter Marg zurück. Ein Kommentar ist (leider!) nicht vorhanden, dafür eine ausgezeichnete umfangreiche Einführung von Detlev Fehling, der sich teilweise von traditionellen Positionen der Herodot-Forschung verabschiedet. Beispielsweise nimmt er Herodot nicht mehr vor seinen eigenen Fehlern in Schutz und betont die unhistorische Seite des Werks.

Meine von altphilologischen Kenntnissen (leider) ungetrübte Perspektive auf das Buch ist ähnlich: Ich lese es einerseits als Literatur, andererseits als zentrales Dokument in der Geschichte des abendländischen Denkens. Es gibt kaum ein Zeugnis, an dem man die sukzessive Emanzipation vom Mythos zugunsten des rationalen Denkens besser beobachten kann.

Schon im ersten Buch gibt es zahlreiche Beispiele dafür, etwa wenn die mythische Entführung der Io nach Ägypten statt durch göttliche Intervention durch eine Entführung der Phönizier, notorischen Seefahrern, erklärt wird, die Io mit einem Schiff nach Ägypten bringen.

Es finden sich bereits philosophische Reflexionen, die an spätere antike ethische Betrachtungen erinnern, etwa wenn Solon folgendermaßen zitiert wird:

Denn viele Menschen, die gewaltig reich sind, sind unglücklich, vielen aber, die nur mäßig zu leben haben, geht es wohl. Nun hat, wer sehr reich ist, aber unglücklich, zweierlei voraus vor dem, dem es nur wohl geht, dieser aber vor dem Reichen und Unglücklichen vieles.

Als Beispiel für eine frühe rationale Methode, die erstaunlich modern anmutet, sei noch der Orakeltest des Kroisos genannt. Dieser schickt Boten gleichzeitig zu verschiedenen Orakeln, läßt dort anfragen und dokumentieren, was bei ihm in hundert Tagen passieren wird, arrangiert zu diesem Zeitpunkt einen raffinierten Test, und vergleicht dann die Prophezeiungen. Als Sieger des Tests geht selbstverständlich das Orakel in Delphi hervor.

 

Buch II

Das zweite Buch handelt ausschließlich von Ägypten, was sich spätestens seit dem Englischen Patienten herumgesprochen haben dürfte. Herodot scheint sich also der überragenden Bedeutung der ägyptischen Kultur bewusst gewesen zu sein, weshalb ihn auch des öfteren beschäftigt, was die Hellenen von den Ägyptern übernommen haben. Inkonsistenzen in diversen mythologischen Überlieferungen spricht er offen an.
Wer sich für die Anfänge des naturwissenschaftlichen Denkens interessiert, wird die Diskussion verschiedener Erklärungen der Nilschwemme aufschlussreich finden: Herodot gibt drei der gängigen Erklärungen wieder, aber “zwei von ihnen verdienen es gar nicht, wiedergegeben zu werden, nur daß ich eben auf sie hinweisen möchte”. (S. 131)

Er verwirft alle drei und entwickelt eine eigene Erklärung des Phänomens, die nicht schlechter als viele wissenschaftliche Reflexionen des Aristoteles sind. Mythologische Erläuterungen weist er schon sehr routiniert zurück:

Wer aber vom Okeanos gesprochen hat, der führt seine Erzählung auf Unsichtbares zurück und hat keinen nachprüfbaren Schluß [!] zu bieten. Denn ich wenigstens kenne keinen wirklichen vorhandenen Strom Okeanos, sondern Homer oder einer der Dichter noch früherer Zeit, meine ich, ist auf diesen Namen gekommen und hat ihn in die Dichtung eingeführt.
[S. 132]

Apropos: Homer. Herodot hat auch zaghaft die Literaturgeschichtsschreibung begründet, macht er sich doch Gedanken über die Lebzeiten der Dichter:

Woher ein jeder der Götter aber seinen Ursprung hat, ob sie alle schon immer da waren und wie ihre Gestalten sind, das wußten sie nicht, bis eben und gestern erst sozusagen. Hesiod und Homer haben, wie ich meine, etwa vierhundert Jahre vor mir gelebt und nicht mehr. Und sie sind es, die den Hellenen Entstehung und Stammbaum der Götter geschaffen und den Göttern die Beinamen gegeben und ihre Ämter und Fertigkeiten gesondert und ihre Gestalten deutlich gemacht haben. Die Dichter aber, von denen man sagt, sie hätten vor diesen gelebt, haben, so meine ich jedenfalls, später gelebt. Und hiervon sagen das erste die Priesterinnen in Dodona, das zweite aber, von Hesiod und Homer, das sage ich.
[S. 151]

Es sei noch die unappetitlich detaillierte Beschreibung der verschiedenen Balsamierungstufen (je nach den finanziellen Möglichkeiten) erwähnt. Dass manche Fragen bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben, zeigen Herodots Bemühungen um den trojanischen Krieg. Er hatte ebenso starkes Interesse daran, wie es wirklich gewesen war, wie die sich beflegelnden Gelehrten heute.

 

Buch III und IV

Selten kommt es vor, dass ich während einer Lektüre die Ausgabe des Buches wechsle. Für die ersten beiden Bücher griff ich zur dtv-Ausgabe. Deren Übersetzung erscheint etwas frischer, allerdings entbehrt sie des Kommentars, weshalb ich mich letztendlich für die verstaubtere Kröner-Edition (Übersetzer: A. Horneffer) entschied.
Der Kommentar entspricht leider nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung, da er sich relativ häufig damit beschäftigt, Herodots Fehler zu entschuldigen. Ansonsten erhält man durchaus aufschlussreiche Hintergrundinformationen.

Im dritten Buch wird der Feldzug der Perser gegen Ägypten und die Aithioper geschildert. Man stößt auf erstaunlich moderne Ansichten, Kulturwissenschaftler, die ihr glaubt, kulturelle Toleranz sei eine postmoderne Errungenschaft: Merket auf 🙂

Mir ist es ganz klar, daß Kambyses wahnsinnig war. Er hätte sonst die fremden Gottheiten und Gebräuche nicht verhöhnt. Denn wenn man an alle Völker der Erde die Aufforderung ergehen ließe, sich unter all den verschiedenen Sitten die vorzüglichsten auszuwählen, so würde jedes, nachdem es alle geprüft, die seinigen allen anderen vorziehen. So sehr ist jedes Volk überzeugt, daß seine Lebensformen die besten sind. Wie kann daher ein Mensch mit gesunden Sinnen über solche Dinge spotten!
[S. 198]

Für Herodot ist kulturelle Toleranz schlicht eine Frage des gesunden Menschenverstands, eine Botschaft, die nach knapp 2500 Jahren bei vielen immmer noch nicht angekommen ist…

Anthropologisch aufschlussreich sind die vielen beschriebenen Grausamkeiten. Ähnliches ist täglich in den Zeitungen zu lesen, so dass sich die unangenehme Frage aufdrängt, ob solche Vorkommnisse nicht eng mit dem Wesen des Menschen verknüpft sind:

Den getöteten Magern [einer an einer Verschwörung beteiligten Volksgruppe, einer klassischen „Minderheit“] schnitten sie die Köpfe ab, ließen ihre Verwundeten zurück, die zu entkräftet waren und auch den Palast schützen sollten, und eilten zu fünft mit den Köpfen der Mager schreiend und lärmend hinaus. Sie riefen die übrigen Perser, erklärten ihnen die Situation, zeigten die Köpfe, und töteten alle Mager, die sie finden konnten. Wäre nicht die Nacht hereingebrochen, so hätten sie keinen Mager am Leben gelassen.
[S. 217]

Grausamkeiten, wie sie auf dem Balkan oder in Algerien im letzten Jahrzehnt häufig vorkamen. Jared Diamond versucht in seinem lesenswerten Buch Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen dieses traurige Phänomen zu erklären (16. Kapitel).

Im vierten Buch beschreibt Herodot hauptsächlich den Kriegszug gegen die Skythen, einem Volk mit vielen aus griechischer Sicht eigenartigen Gewohnheiten. Wie immer gibt es viele interessante Exkurse, etwa über die ersten Versuche, Afrika zu umsegeln.

 

Buch V, VI und VII

Mit dem fünften Buch kommt Herodot eigentlich erst zur Sache: der griechischen Geschichte im engeren Sinn. Vorher war hauptsächlich von der persischen Historie die Rede, was mir aus zwei Gründen bemerkenswert erscheint:

Es zeugt erstens von einer ungewöhnlichen Abstraktionsfähigkeit, sich so ausführlich und “objektiv” mit einer anderen Kultur zu befassen.

Zweitens wird darin ein früher Sinn für erzählerische Strukturen und deren Wirkungen sichtbar, denn es läßt den abschließenden Sieg der Griechen natürlich desto glorreicher erscheinen, wenn man vorher den Gegner als eine gewaltige Großmacht kennen lernte.

Der zitierenswerten Fundstücke gäbe es viele. Hervorzuheben ist jedenfalls das Volk der Trauser, die ihrem Leben völlig illusionslos gegenüberstehen:

Das Leben der Trauser ist im allgemeinem dem der anderen thrakischen Stämme ähnlich, nur bei der Geburt und beim Tode haben sie eigentümliche Gebräuche. Um das neugeborene Kind setzen sich die Verwandten herum und klagen, weil es so viele Leiden in seinem Leben werde erdulden müssen; dabei zählen sie alle menschlichen Leiden und Kümmernisse auf. Die Toten dagegen begraben sie unter Lachen und Scherzen, weil sie allen Übeln entronnen seien und jetzt in Freude und Seligkeit lebten.
[S. 330]

Es finden sich erfrischende Seitenhiebe gegen die Monarchie: “Kleomenes, sein Sohn, war König, seiner Abkunft, nicht seiner Tüchtigkeit wegen.” (S. 343) zu denen folgendes Lob der Gleichheit passt:

Athen also wuchs.Die Gleichheit ist eben in jedem Betracht etwas Wertvolles und Schönes, denn als die Athener noch Tyrannen hatten, waren sie keinem einzigen ihrer Nachbarn im Kriege überlegen. Jetzt, wo sie von den Tyrannen befreit waren, standen sie weitaus als die Ersten da. Man sieht daraus, daß sie als Untertanen, wo sie für ihren Gebieter kämpften, absichtlich feige und träge waren, während sie jetzt, wo jeder für sich selber arbeitete, eifrig und tätig wurden.
[S. 359]

Manchmal vertraut Herodot ein abschließendes Urteil seinen Lesern an: “Das sind die Gründe, die beide Städte anführen. Jeder mag denen zustimmen, die ihn überzeugen.” (S. 346). Literarisches wird selten erwähnt, so hat diese Darstellung aus dem Athener Theaterleben einen gewissen Raritätenwert: “So dichtete Phrynichos ein Drama ‘Der Fall Milets’ und als er es aufführte, weinte das ganze Theater, und Phrynichos mußte tausend Drachmen Strafe zahlen, weil er das Unglück ihrer Brüder wieder aufgerührt habe. Niemand durfte das Drama mehr zur Aufführung bringen.” (S. 387)

Ab und zu relativiert Herodot die “aufgeklärten” Passagen, indem er göttliche Kausalitäten anerkennt, etwa des Kleomenes’ Schicksal auf göttliche Rache zurückführt (S. 410/411), anstatt auf die Unfähigkeit des Spartanerkönigs.

 

Buch VIII und IX

Die letzten beiden Bücher des Werks sind die bekanntesten, beschreiben sie doch die Höhepunkte der Perserkriege und die Befreiung Ioniens. Der monomane Größenwahn des Xerxes’, der die gesamte bekannte Welt erobern will und eine gigantische Kriegsmaschinerie ins Feld führt, wirkt beklemmend paradigmatisch für den weiteren Geschichtsverlauf bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Ebenso typisch auf der anderen Seite der Freiheitsdrang nicht nur der Griechen, sondern auch viel kleinerer Völker und Städte. Das heute vielzitierte “Recht auf Selbstbestimmung” findet in den Historien als verbreitetes Bedürfnis seine ersten ausführlichen Beschreibungen, was auch aus anthropologischer Perspektive sehr erhellend ist.

Das langsame, genaue Lektüre der Historien war nicht nur historisch höchst aufschlussreich, sondern auch geistesgeschichtlich, anthropologisch, ethnographisch und literarisch.

 
Herodot: Historien (Kröner)

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