Doderers literarischer Kommentar zur Psychoanalyse

„Die Dämonen“

Ganz bescheiden im Gefolge Tlopatsch’s war auch Fräulein Wiesinger, die Pianistin, erschienen, kurzsichtig und stupsnäsig

[…]

Sie war jedoch nicht dumm, nur ganz und gar verschroben, unheilbar aber erst durch den Umstand geworden, daß sie einmal einem Psychoanalytiker in die Hände geraten war, nach dazu als Halbwüchsige, und obendrein: der Mann war imstande gewesen, ihr wirklich zu helfen. Hierdurch also war sie unheilbar geworden, denn sie erhielt nun für alles in der Welt, was immer ihr am Mitmenschen auffiel, einen gutpassenden Schlüssel, erschloß damit alsbald den Sachverhalt und fand richtig drinnen eine Benennung irgendwelcher Art sozusagen schon vorbereitet liegen. Mit solcher Magie der Namensgebung glücklich und zufrieden, glaubte sie sich allen Ernstes im Besitze tiefer Einsichten, und das war für ihren an sich nicht schlechten, doch immerhin bescheidenen Verstand denn doch zu viel. Sie schnappte über, das heißt, sie verlor das Gleichgewicht und wurde eingebildet und anmaßend, ganz in der Art, wie es ein richtig von Geburt her völlig Blöder zu sein pflegt. Man kann sagen, sie war, statt aller früheren Übel, nunmehr endgültig und für immer an der Psychoanalyse selbst erkrankt; für eine Heilwissenschaft jedenfalls ein beachtenswertes Resultat. Sie blieb auch dauernd in ‚Behandlung‘, durch die vielen Jahren hindurch, opferte einen großen Teil ihres schwer verdienten Geldes dafür und tut das, wie ich neulich erst hörte, heute als alte Dame noch. (dtv 1993, S. 432f.)

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